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Netflix-Hit

"Night Agent" trifft "Scandal": Warum "Diplomatische Beziehungen" sich lohnt

Meinung | Gerade ist bei Netflix "Diplomatische Beziehungen" zum Überraschungshit geworden. Unser Redakteur Michael Hille hat sie sich angesehen und kann den Erfolg gut verstehen – dennoch ist die Serie für ihn nicht ohne elementare Schwächen.

Erst gelang "The Night Agent" bei Netflix überraschend ein weltweiter Hit, jetzt hat es erneut eine Serie beim Anbieter ganz unerwartet zum Erfolg geschafft: "Diplomatische Beziehungen". In nur zwei Wochen kämpfte sie sich in 86 Ländern in die Netflix-Top-10. Eine zweite Staffel wurde jüngst in Auftrag gegeben. Worum geht`s? Die US-Diplomatin Kate Wyler (Keri Russell) wird nach London geschickt, als ein britischer Flugzeugträger bombardiert wird und der Iran die Schuld zu tragen scheint. Kate soll einen Krieg verhindern, denn als Army-Veteranin war sie lange im Irak stationiert und hat daher Detailkenntnisse über den "Nahen Osten".

Während sie u.a. in Konferenzen den Premierminister Nicol Trowbridge (Rory Kinnear) beschwichtigt, hat Kate zudem alle Hände voll zu tun, ihre auseinanderbrechende Ehe mit dem Diplomaten Hal (Rufus Sewell) irgendwie aufrechtzuerhalten. Und was sie nicht weiß: US-Stabschef Stuart Heyford (Ato Essandoh) hat Kate genau im Blick, denn er sieht sie als mögliche Nachfolgerin für das Amt des Vizepräsidenten.

"Diplomatische Beziehungen" ist ein Mix vieler toller Serien

Die acht Folgen der ersten Staffel "Diplomatische Beziehungen" tanzen inhaltlich auf vielen Hochzeiten. Ganz verschiedene Elemente machen diese Serie aus: Verzwickte politische Intrigen, eine heftige Ehekrise, gezielte Thriller-Momente und dezente Seifenoper-Einschübe finden sich, und gehören alle zum Konzept. Genau wie bei "The Night Agent" ist "Diplomatische Beziehungen" ein Hit geworden, ohne wirklich Neues zu bieten. Stattdessen funktioniert gerade dieser neue Serienerfolg als Mix aus verschiedenen geliebten Formaten der letzten Jahre. Serienschöpferin Debora Cahn schrieb zuvor die gefeierten "West Wing" und "Homeland", von denen deutliche Spuren in "Diplomatische Beziehungen" zurückbleiben.

Genauso erinnert vieles an "Designated Survivor", die bei Netflix ebenfalls erfreulich erfolgreich lief, und natürlich an "Scandal", die bereits über sieben Staffeln die Welt der politischen Irrungen aus weiblicher Perspektive erzählte. Eine lustige Parallele gibt es auch zu "Black Mirror", spielte Rory Kinnear doch da schon in der berüchtigten Auftaktepisode (Stichwort: Schweinekopf) die Rolle des britischen Premierministers.

"Diplomatische Beziehungen" ist perfekt für Netflix

Eine großartige Serie ist "Diplomatische Beziehungen" nicht. Sie verbindet zwar gekonnt viele beliebte Elemente anderer Formate und entwickelt dabei einen eigenen Tonfall, ist aber in ihrer Figurenzeichnung und Handlungsentwicklung oft seltsam unpräzise. Hauptfigur Kate etwa soll einerseits als eine Frau porträtiert werden, die aufgrund ihres Klischees in der Männerwelt der britischen Politik mit Vorurteilen zu kämpfen hat. Gleichzeitig bleibt sie in ihren privaten Momenten seltsam blass und entwickelt über das Format der verzweifelten Ehefrau kaum Profil. Genauso mag die Geschichte per se schlüssig aufgebaut sein, stolpert aber manchmal etwas übereilt von Ereignis zu Ereignis oder setzt auf Gevatter Zufall und überstrapaziert damit die eigene Glaubwürdigkeit.

Doch der Erfolg von "Diplomatische Beziehungen" kommt trotz aller Schwächen nicht von ungefähr. Die Serie lebt geradezu von ihrer tollen Besetzung, allen voran Keri Russell, die nach "The Americans" zum zweiten Mal eine Serienrolle so spielt, als sei sie dafür geschaffen. Sie hat eine entwaffnende Ausstrahlung, die sie sofort sympathisch werden lässt. Zudem ist die Kameraarbeit hervorragend: Ohne große Schauwerte im eigentlichen Sinne wird dem Auge hier einiges geboten. Hochglanz-Optik, sicher, aber gekonnt und ehrlich stylisch.

Die hohen Zuschauerzahlen erklären sich vielleicht aber erst durch den Vergleich mit "The Night Agent": Beide Serien haben gemein, dass sie zwar auf Spannung setzen, aber diese nur in vereinzelten Momenten richtig zuspitzen. Trotz emotionaler oder anspannender Szenen lassen sie sich entspannt auf der Couch anschauen und verlangen zudem keine hyperkonzentrierte Aufmerksamkeit – u.a., weil man all die einzelnen Versatzstücke eben schon aus anderen Serien kennt. Für Netflix zahlt sich das aus: Der gemütliche Freitagabend verlangt keine Nägelkauer, sondern charmantes Fernsehen, bei dem man weiß, was man bekommt, und trotzdem gerne wieder dabei ist. Dieses Versprechen macht Netflix zurzeit und der Erfolg weist daraufhin, dass es funktioniert. Derzeit dürfte kein anderer Streamingdienst solch diplomatische Beziehungen zu seinen Abonnenten aufgebaut haben.

"Diplomatische Beziehungen" ist seit dem 20. April 2023 bei Netflix verfügbar.