Um ehrlich zu sein, war es schon eine Überraschung: Als die Serie "Chernobyl" 2019 zu einem riesigen Hit für die Sender HBO und Sky wurde, war sie im Vorfeld nicht besonders aggressiv beworben worden. Als sie in der IMDb plötzlich auf den vorderen Rängen landete und blieb, zogen die Verantwortlichen schnell nach und gaben, zumindest in Deutschland, richtig Gas mit der Werbung.

Fünf Folgen über die größte atomare Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Kann so etwas gelingen? Ja! Was die "besten Serien" sind, ist immer Geschmackssache, aber bei "Chernobyl" gibt es ein paar objektive Gründe, warum die Serie zu den besten ihrer Art gehört.

Die Nähe

Das Schlimmste und gleichzeitig Beste an der HBO/Sky-Koproduktion ist, wie nah sie dem Ereignis kommt. Als die erste Folge beginnt, sind wir schnell im Epizentrum der Katastrophe: dem Kernreaktor, der später explodieren wird. Wichtige Entscheidungen und schließlich die Explosionen und Erschütterungen erleben wir hautnah durch Close-ups mit, ohne ins Bildspektakel zu fallen. Zu jedem Zeitpunkt kann der Zuschauer durch subtile Kameraeinstellungen fühlen, wie die atomare Energie das Gebäude zerstört und die Mitarbeiter von Tschernobyl innerlich zersetzt.

Als die ersten Feuerwehrleute an der Unfallstelle ankommen, sind wir ihnen ganz nah, als sie beginnen zu verstehen, was passiert. "Chernobyl" lebt von seinen Reaktionen auf eine Katastrophe, nicht von dem Spektakel selbst. Ja es gibt eine Explosion aber nicht im Stil von "Independence Day", sondern im Hintergrund. Es erschüttert die Kamera und den Zuschauer, wie es die Welt erschüttert hat: zuerst unauffällig, aber wahrnehmbar und später umso heftiger. Was es für die Menschen bedeutet, dort gewesen zu sein, ist das eigentlich Grausame. Und genau da setzt auch der nächste Punkt an.

Der neue Katastrophen-Film

Nach dem 11. September 2001 hatte es das beliebte Kino der Katastrophe schwerer. Die US-Amerikaner wollten ihre Welt nicht mehr untergehen sehen und es kam nie wieder zu so einer Dominanz des Genres wie in den 90ern. "Chernobyl" hat dieses neu erfunden.

Keine Bombenexplosion, keine Feuerbälle, keine Alien-Raumschiffe. Als der Reaktor von Tschernobyl explodiert, sehen wir die Leuchtsäule der Strahlung klein im Hintergrund durch das Fenster einer Wohnung in der Nähe. Keine gebrochenen Scheiben, keine fliegenden Menschen. Der Effekt ist schockierend, weil fast nur die Auswirkungen gezeigt werden: Krankheit, Umsiedlungen, Gegenmaßnahmen, politische Dimensionen. Die Welt rund um die Stadt Prypjat und den Reaktor geht leise und still aber umso brutaler unter, nicht mit Krach, auch wenn es der Serie nicht an Tempo fehlt.

Die Bandbreite

In nur fünf Folgen schafft es die Serie das Ereignis, die politischen Dimensionen, die menschlichen Auswirkungen, die Gegenmaßnahmen und den juristischen Prozess aufzuarbeiten. Das alles anhand von nur rund vier bis fünf Hauptfiguren und mit einem echten Ereignis vor der Nase, das Menschen durchaus von 1986 noch in Erinnerung haben. Die Macher haben mal gesagt, dass sie nicht alle realen Gegebenheiten verarbeiten konnten, weil sie Angst hatten, der Serie würde keiner glauben, dass das wirklich passiert ist. Dank des nahezu perfekten Drehbuchs, den tollen Darstellern und der grenzgenialen Balance innerhalb der Folgen, gelingt das nahezu unmögliche: Viel in wenig erzählen, und zwar so, dass keine Sekunde Langweile aufkommt. Selten war Fernsehen so nahe an der Perfektion wie hier.

Die ersten beiden Folgen "Chernobyl" laufen heute um 20.15 Uhr auf ProSieben und sind anschließend kostenlos bei Joyn zu streamen verfügbar. Die gesamte Serie ist beim Streamingdienst Sky Ticket abrufbar. Das dafür nötige Entertainmentpaket kostet 7,49 Euro im ersten Monat.