Passend zur Weihnachtszeit hat Netflix eines der bekanntesten aller Märchen verfilmt: "Pinocchio". Es ist schon der zweite große Film dieses Jahr mit diesem Titel, denn bei Disney+ erschien noch im Sommer ein Remake des Disney-Zeichentrickklassikers, u.a. mit Tom Hanks als Meister Gepetto. Der Film erwies sich als riesiger Flop, bekam teils vernichtende Kritiken und hatte weder Charme noch Witz.

Netflix wiederum hat es besser erwischt: Ihr "Pinocchio" von Regie-Genie Guillermo del Toro ("Pans Labyrinth", "The Shape of Water") ist ein wunderschöner, wilder und sehr individueller Angang an die bekannte Geschichte vom hölzernen Kind, das ein echter Junge werden will. Eines ist dieser "Pinocchio" aber nicht: Familienunterhaltung. Wer Kinder hat, sollte sie von diesem Film fernhalten, denn "Guillermo del Toros Pinocchio" kann richtig düster und bedrohlich werden.

"Pinocchio" im Faschismus: Worum geht's im Netflix-Film?

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Gepetto sieht in "Guillermo del Toros Pinocchio" wie ein Weihnachtsmann aus, der so richtig schlechte Laune hat.

Im Ersten Weltkrieg verliert der Holzschnitzer Gepetto seinen kleinen Sohn Carlo bei einem Bombenangriff. Viele Jahre trauert er um ihn, doch dann beschließt er, die Kiefer am Grab seines Sohnes zu fällen, und sich aus dem Holz des Baumes einen neuen Sohn zu schnitzen: Pinocchio. Die Waldgeister haben Mitleid mit dem armen alten und seit seiner Trauer auch alkoholkranken Mann und schicken ihm in seiner Not die blaue Fee. Eine kleine Grille beobachtet so, wie diese Fee dem geschnitzten Kind das Leben schenkt.

Gepetto ist schockiert von der Kreatur und sperrt Pinocchio weg – bis ihm doch so etwas wie Empathie überkommt. Die Nachbarn aber halten Pinocchio für ein Monster und versuchen, ihn zu töten: vergeblich. Pinocchio überlebt Waffengewalt und offenes Feuer. Das spricht sich rum, und schon stehen eines Tages italienische Faschisten auf der Matte. Die planen gerade, ihr Land auf den kommenden Zweiten Weltkrieg vorzubereiten und sehen in dem offenbar unsterblichen hölzernen Jungen den perfekten Soldaten in Mussolinis Armee …

"Bitte was?" – So werden viele auf "Pinocchio" bei Netflix reagieren

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Der Look von "Pinocchio" mag sehr speziell sein. Wer sich drauf einlässt, wird es aber genießen. Fakt ist jedoch: Niedlich ist anders.

Schon das Lesen der Inhaltsangabe wird bei vielen Kopfschütteln auslösen. Guillermo del Toro ist bekannt für seine Schauermärchen, insbesondere "Pans Labyrinth" ging wegen der grandios-düsteren und morbiden Bilder in die Filmgeschichte ein. Bei seinem "Pinocchio" bleibt er sich treu: Der hölzerne Knabe selbst mag ein naiver, kindlicher Spaßmacher sein, doch die Welt, in der er lebt, ist grausam. Die toskanischen Kirchengänger betrachten ihn als "Dämon" und Ausgeburt der Hölle, sein Vater Gepetto sieht ihn nur als Ersatz für den verstorbenen "echten" Sohn, sein bester Freund (der Sohn des örtlichen Faschistenführers) Kerzendocht zieht ihn mit sich zum italienischen Äquivalent der Hitlerjugend, in der Pinocchio zum Faschisten ausgebildet werden soll und sogar Benito Mussolini begegnet.

Gezeigt wird all das in einem Stop-Motion-Animationsstil, der so gar nichts von der putzigen Disney-Optik hat. Kantige, harte Gesichter in einer düsteren und kaputten Welt dominieren das Bild. Um die extrem aufwendigen Animationen in dieser bestechenden Optik zu perfektionieren, holte sich Guillermo del Toro als Co-Regiseur Mark Gustafson, der schon mit Wes Anderson den brillanten Kinderfilm "Der fantastische Mr. Fox" in diesem Stil entwickelte. Atmosphärisch gelingt so ein unglaublicher Sog: Schon das schräge Aussehen der Figuren, die unheimlichen Bewegungen verschiedener Charaktere oder gar die bedrohliche Farbgebung der Bilder lässt einen eher denken, Netflix hätte diesen Film besser zu Halloween als in Richtung Weihnachtsprogramm veröffentlichen sollen.

"Pinocchio" ist ein fesselnder Ritt, der Kinder aber verstören wird

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In del Toros "Pinocchio" sehen Figuren nicht auf Anhieb sympathisch aus, sondern müssen sich dieses Ansehen erst erarbeiten. Immerhin: Das gelingt ihnen mit Bravour!

Netflix tut gut daran, "Guillermo del Toros Pinocchio" erst ab 12 Jahren freizugeben. Die Geschichte von Pinocchio wird hier mit heftigen Kriegsbildern angereichert, die trotz der abstrakteren Stop-Motion-Optik noch eine immense Wucht entfalten. Auch thematisch ist das oft schwer zu schlucken: Für del Toro ist erneut der Faschismus die schlimmste Hölle, die er sich vorstellen kann, und so wird die italienische Herrschaft unter Mussolini als eine Zeit der Menschenverachtung porträtiert, in der Rassismus, Fremdenhass und Antisemitismus dominieren, selbst die Katholische Kirche ist tief in dieses unmenschliche System verstrickt. Pinocchio und Kerzendocht kämpfen letztlich hart dafür, nicht kämpfen zu müssen – und in seinem kraftvollen Höhepunkt wird dieser Film zu einem grandiosen Plädoyer für den unbedingten Pazifismus, um jeden Preis – ohne in eine plumpe "Kinder an die Macht"-Botschaft überzugehen.

Es sind heftige Ideen, die hier verhandelt werden. In der wohl besten und zugleich tragischsten Szene des Films sieht Pinocchio, wie Gläubige sich vor eine Statue aus Holz knien, die Jesus Christus ans Kreuz genagelt zeigt. Pinocchio versteht in diesem Moment die Welt nicht mehr: Wieso lieben all diese Menschen den hölzernen Jesus, ihn aber verachten sie? Ein großartiger Moment, wenngleich del Toro es in den 114 Minuten dieses Films mit dem Schwermut und der Tragik bisweilen übertreibt. Gerade die besonders gruselig gestaltete Grille wirkt in ihrer abstoßenden Art zu aufgesetzt, selbiges gilt für das überzogene Ende, welches zu sehr versucht, noch einmal besonders tief in die Magengrube zu schlagen.

Dennoch sollte man "Guillermo del Toros Pinocchio" sehen und sich davon einvernehmen lassen, wie es dem genialen mexikanischen Filmemacher erneut gelingt, auf der Klaviatur der Emotionen zu spielen. Und insbesondere im Vergleich zu den vielen uninspirierten Disney-Neuverfilmungen der letzten Jahre tut es gut, ein bekanntes Märchen mal so eigenständig und mutig neuinterpretiert zu sehen. Für Kinder ist das aber garantiert nichts, soll es aber auch nicht sein. Die Trailer, die in Teilen noch Familienfreundlichkeit vorgaukelten, gehen wohl auf das Konto der Netflix-Produzenten. Ein übler Scherz, den viele Eltern wohl nicht so lustig finden werden.