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Trotz Brendan Fraser: "The Whale" ist ein einziges Desaster

Meinung | Nach vielen Jahren ist das Drama "The Whale" der große Comeback-Film von Brendan Fraser – sogar einen Oscar hat er für seine Hauptrolle gewonnen. Warum der Film seinen bärenstarken Auftritt allerdings nicht verdient hat, verrät unser Redakteur Michael Hille.

Inhalt
  1. 1. Die Geschichte einer Essstörung: Wovon "The Whale" handelt
  2. 2. Trotz toller Darsteller: Warum "The Whale" so verärgert
  3. 3. Darren Aronofsky wehrt sich gegen Fatshaming-Kritik
  4. 4. Ärgernis pur! "The Whale" ist manipulative Elendspornografie

Über kaum einen anderen Moment wurde 2023 nach der Oscar-Verleihung mehr gesprochen. Brendan Fraser holte sich für seinen Auftritt in "The Whale" den Goldjungen in der Kategorie 'Bester Hauptdarsteller' ab. Es war das fulminante Comeback eines Schauspielers, der einst in Filmen wie "Die Mumie", "Gods and Monsters" oder "L.A. Crash" zum Publikumsliebling aufstieg, dann aber das Rampenlicht mehr und mehr vermied. Später gab er bekannt, Grund dafür seien seine Depressionen gewesen, die er bekam, nachdem er in Hollywood sexuell belästigt worden war.

Mit dem Oscar für "The Whale" ist Fraser jetzt zurück auf der großen Bühne. Die Freude darüber ist groß – erst recht, da er schon damals ein unterschätzter Schauspieler war, der viel zu bieten hat. Leider aber kann man abseits von ihm kaum positive Worte über "The Whale" verlieren. Die Verfilmung eines gleichnamigen Theaterstücks ist nämlich nicht mehr oder minder eines der größten Kino-Ärgernisse seit sehr langer Zeit.

Die Geschichte einer Essstörung: Wovon "The Whale" handelt

Foto: A24, Brendan Fraser gewann für "The Whale" einen Oscar. Er verdient ihn – der Film nicht.

Brendan Fraser spielt in "The Whale" den Englischprofessor Charlie, der nach dem Tod seines Liebhabers, für den er einst seine Familie verließ, in eine Depression gefallen ist und eine Essstörung entwickelt hat. Mittlerweile unterrichtet er nur noch von zuhause, ohne seine Webcam einzuschalten – da ihn niemand ansehen soll und er aus seinem Sessel gar nicht mehr alleine hochkommt. Er wiegt 272 Kilogramm. Seine einzige Vertraute, die Krankenschwester Liz (Oscar-nominiert für "The Whale": Hong Chau), rät ihm zu einem Arztbesuch. Doch Charlie hat sich längst aufgegeben, seine Gesundheit ist ihm egal.

Was er wirklich sucht, ist Erlösung und Vergebung. Von seiner 17-jährigen Tochter Ellie ("Stranger Things"-Star Sadie Sink) lebt er stark entfremdet und sehnt sich nach einer erneuten Annäherung. Zudem macht er an seiner Haustür die Bekanntschaft mit dem Tür-zu-Tür-Adventisten Thomas (Ex-"Insidious"-Kinderstar Ty Simpkins), dessen Worte ihn trotz seiner eigenen Abneigung gegenüber Religion berühren. So kommt ihm eine Idee: Er bietet Ellie 120.000 Dollar, wenn sie mit ihm Zeit verbringt, ohne es ihrer Mutter ("The Walking Dead"-Schurkin Samantha Morton) zu sagen. Ellie willigt ein, unter der Bedingung, dass er ihr dabei hilft, einen wichtigen Schulaufsatz zu schreiben.

Trotz toller Darsteller: Warum "The Whale" so verärgert

Man muss direkt sagen: "The Whale" holt sich international viel Lob ab. Brendan Fraser wird nahezu überall hymnisch verehrt, genau wie die ebenso grandios spielende Hong Chau. Beide zeigen ihr vollstes Können, insbesondere Fraser leistet physisch Erstaunliches, trägt den ganzen Film über schließlich einen beachtlichen Fat Suit und heftiges Make-Up (die Maskenbildner erhielten für "The Whale" ebenfalls einen Oscar). Wie Fraser grunzt, schreit, schwitzt und heult ist großes körperliches Schauspiel und auch Hong Chau hat den gequälten Mitleidsblick regelrecht perfektioniert. Man gönnt ihnen jedes Lob. Aber man hätte ihnen auch einen besseren Film gegönnt.

Denn "The Whale" ist als Film über das psychische wie körperliche Leiden unter einer Essstörung schlicht ein fataler Griff ins Klo. Regisseur Darren Aronofsky nähert sich dem äußerst sensiblen Thema ohne einen Hauch Subtilität oder Vorsicht. Für die seelischen Abgründe der Charlie-Figur interessiert sich sein Werk nicht wirklich, stattdessen filmt er immer und immer wieder manipulativ auf das Körperfett der Hauptfigur, inszeniert dauerhaft dessen adipöse Erscheinung, seine fettigen Finger und schweißgebadeten T-Shirts sowie sein massenhaftes Verschlingen von Pizzen in verzerrt gefilmten Bildern und weidet sich so nahezu im körperlichen Leid. Klar: Will man sich dem Thema krankhaftem Übergewicht annähern, darf man all diese Aspekte nicht aussparen. Doch "The Whale" hat nichts Anderes zu bieten, als seine Hauptfigur und ihre Erscheinung voyeuristisch auszuschlachten und bewusst auf einen Ekelfaktor zu setzen, der dem Sujet des Films zu keiner Sekunde gerecht wird.

Darren Aronofsky wehrt sich gegen Fatshaming-Kritik

Foto: A24, Hong Chau ist eine tolle Schauspielerin, darf in "The Whale" aber selten mehr leisten, als mitleidig gucken.

"The Whale" ist erst jetzt in Deutschland erschienen, startete in den USA allerdings schon im vergangenen Jahr und handelte sich da bereits Kritik ein, unter anderem dafür, er betreibe "Fatshaming". Die Filmkritikerin Lindy West schrieb in einer Kolumne im Guardian: "Leute reagieren positiv auf 'The Whale', weil er ihre Vorurteile darüber bestätigt, wie dicke Menschen sind (eklig, traurig) und warum dicke Menschen fett sind (Trauma, Heißhunger) und er ihnen so ermöglicht, sich wohlwollend und überlegen zu fühlen. Es ist ein grundlegender Dopamin-Hit, der den Platz dünner Menschen an der Spitze der sozialen Hierarchie bestätigt." Filmemacher Aronofsky selbst argumentierte im Interview mit Yahoo! Entertainment dagegen: Charlie sei "der erste Filmprotagonist mit Fettleibigkeit, der keine Klischeefigur, kein Bösewicht und keine Witzfigur ist".

Damit mag er recht haben – und doch muss man fragen, was Aronofsky mit diesem Film eigentlich erreichen wollte. Vieles wird angerissen, aber nie auserzählt: Die Versuche des Sektenmitgliedes Thomas, den adipösen Charlie zu bekehren und zu heilen, führen bei ihm zu einem Hadern mit dem eigenen religiösen Glauben. Tochter Ellie ist voll des Zornes auf einen Vater, der sie und ihre Mama einst verlassen hat, um sein Leben dann so sehr – aus ihrer Sicht formuliert – "wegzuwerfen". Arzthelferin Liz weiß, dass Charlie in seinem Zustand nicht mehr lange leben wird, zögert aber, ihm zu helfen, denn sie spürt, dass er insgeheim sterben will. Und Charlie? Der wird weiter beim exzessiven Konsum von Junkfood gezeigt, beim Trauern um den einst verstorbenen Geliebten, und als sein Leben dann in den letzten Minuten wirklich kurz vor dem Ende zu stehen scheint, wirkt es gar, als wolle Aronofsky uns mitteilen, dass der Tod vielleicht das Beste für diese Figur sei. All diese küchenpsychologischen Handlungsstränge heben das Problem nicht auf, dass Charlies ausschließlich negative Darstellung keine positive Wendung erfährt, er lediglich ein Anschauungsobjekt bleibt.

Ärgernis pur! "The Whale" ist manipulative Elendspornografie

Darren Aronofsky hat in der Vergangenheit zwei Filme mit sehr ähnlichen Thematiken gedreht: "The Wrestler", der damals auch das Comeback eines vergessenen Schauspielers ermöglichte (Mickey Rourke wurde Oscar-nominiert), und "Black Swan", in dem Natalie Portman eine Primaballerina spielte, die für ihre Obsession mit einer Hauptrolle bis ans Limit geht. Beide Filme erzählten ebenfalls von Menschen, denen ihr Leben außer Kontrolle geriet und die erst in der Selbstaufopferung ihre Bestimmung und Katharsis fanden. In den Schicksalen dieser Figuren lag ein Protest verborgen, ein Aufbegehren gegen unfaire Gesellschaftsstrukturen – und auch wenn beide Filme tragisch endeten, so erkämpften sich die Hauptfiguren letztlich ihre Autonomie zurück. Sie fanden in der Niederlage ihren individuellen Sieg. So badete man nicht bloß zwei Stunden in Misere und verließ das Kino ausschließlich bestürzt, sondern empfand ein unerwartet optimistisches Gefühl der Hoffnung.

"The Whale" ist hingegen reines Betroffenheitskino und als Film eine einzige zentnerschwere depressive Behauptung. Angeblich handelt er von Menschen und ihren tragischen Schicksalen, in Wahrheit aber dienen sie alle nur als Vehikel, als extreme Seherfahrung, sind einzig dazu generiert worden, um billig Mitleid beim Publikum zu erzeugen und dem Star im Zentrum einen Oscar einzubringen. Immerhin letzteres ist gelungen. Ansonsten aber sind diese schwermütigen 117 Minuten ein durch und durch depressives Erlebnis, in dem Mitleid dauerhaft mit Empathie verwechselt wird. Da hilft es auch wenig, dass Brendan Fraser hin und wieder Kalenderspruch-Weisheiten à la "Man darf nie aufgeben, an sich zu glauben" zum Besten geben muss: "The Whale" ist kein menschliches Drama, sondern zynische Elendspornografie, die sich bedeutungsschwanger gibt, im Kern aber nichts zu sagen hat.

"The Whale" ist seit dem 27. April in den deutschen Kinos zu sehen.

*Wenn Sie selbst oder Personen, die Sie kennen, unter einer Essstörung leiden oder Fragen zum Thema haben, steht das Beratungstelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Betroffenen und Angehörigen zur Verfügung. Unter der Telefonnummer 0221 892031 erreichen Sie montags bis donnerstags von 10.00 bis 22.00 Uhr und freitags bis sonntags von 10.00 bis 18.00 Uhr einen Berater.