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Um die Jahrtausendwende herum galt Guy Ritchie als eine Art "britischer Tarantino". Mit seinen rotzigen britischen Gangsterfilmen "bube, dame, könig, grAS" und "Snatch" eroberte Ritchie das Spartenkino im Sturm und atmete den Geist von "Reservoir Dogs". Seine Markenzeichen: Fluchende, selbstreferenzielle Dialoge, moralisch fragwürdige Antihelden als Protagonisten, ultra-stilisierte Bilder der Marke "MTV" und ein deftiger Schuss expliziter Gewalt.
Doch sein Stil änderte sich notgedrungen, als seine Karriere sich nach Hollywood verlagerte. Zugegeben: Im spaßigen Actionkrimi "Sherlock Holmes" und der meisterlichen Fortsetzung "Spiel im Schatten" gelang es ihm noch, seine Manierismen kongenial in die Blockbuster-Struktur des US-Kinos einzubetten. Doch in "Codename U.N.C.L.E." geriet ihm die 1960er-Agentenpersiflage ungewöhnlich handzahm und sein Versuch, "King Arthur" und seine Ritter der Tafelrunde als britische Hip-Hop-Gangster des Mittelalters umzudeuten, ging peinlich daneben.
2019 schaffte er dann mit der Real-Neuverfilmung von Disneys "Aladdin" einen Welterfolg, doch von seinem mutigen, frechen Stil war nichts mehr übrig. Stattdessen unterschied sich sein Remake enttäuschenderweise in keinster Weise vom Trickfilmoriginal. Doch all das – so viel sei verraten – sei ihm nach "The Gentlemen" verziehen. Sein kleiner, rebellischer Gaunerfilm ist die lang ersehnte Ritchie-Renaissance: Derb, intelligent, subversiv und unverschämt cool.
Cockney-Gangster auf den Pfaden Shakespeares
Bei dem Versuch, den Plot von "The Gentlemen" zusammenzufassen, wird klar, wie komplex die Handlung aufgebaut ist. Die Figuren schmieden so viele Intrigen unter- und gegeneinander, dass es fast an die Absurditäten eines Shakespeare-Stücks erinnert. Daher nur so viel:
Der millionenschwere Londoner Marihuana-Mogul Mickey Pearson (Matthew McConaughey) will sich aus der Unterwelt zurückziehen. Das ruft die Konkurrenz in Form des asiatischen Ganoven Dry Eye (Henry Golding) auf den Plan, der genau wie Großhandels-Gangster Matthew Berger (Jeremy Strong) auf das Unternehmen scharf ist. Dumm für Pearson, dass parallel dazu ein paar Raudis des städtischen Boxlehrers Coach (Colin Farrell) eine seiner Plantagen leerräumen, der Zeitungsgigant Big Dave (Eddie Marsan) ein Hühnchen mit ihm rupfen will und seine treue rechte Hand, der Schläger Raymond (Charlie Hunnam), sich bei all dem mit dem Privatschnüffler Fletcher (Hugh Grant) herumschlagen muss, der aus all den Miseren selbst Gewinn ziehen will. Alles klar?
Highspeed-Spaß mit Köpfchen
Vorne weg: Das erfreuliche an "The Gentlemen" ist, dass man ihn auch ganz ohne Mitdenken als reißerischen Adrenalintrip der Marke "Layer Cake" (von Ritchie-Korrespondent und "Kingsman"-Regisseur Matthew Vaughn) genießen kann. "The Gentlemen" ist voll von verrückten, aber immer zündenden Einfällen. Sei es schon allein die Tatsache, dass der ganze Film als Rückblende von Hugh Grant und Charlie Hunnam nacherzählt wird, die aber beide als verfeindete Parteien unzuverlässige Erzähler sind, denen man als Zuschauer kein Stück trauen darf.
Oder sei es der grandiose Einsatz von Musik, wenn das wunderschöne, altmodische Opening vom düsteren Folk-Song "Cumberland Gap" von David Rawlings (unbedingt reinhören!) unterlegt wird – oder später im Film ein amateurhaftes Hip-Hop-Video eine wichtige Rolle spielt, dass wie aus dem Jahr 2000 importiert wirkt, so als wolle Ritchie hier selbst zugeben, bei seinem jüngeren Ich geklaut zu haben. Ritchie, der tatsächlich mit der Inszenierung von Musikvideos seine Karriere begann, muss einen Heidenspaß gehabt haben, bei einer Rückkehr zu seinen filmischen Wurzeln gleich bis ganz an den Anfang zurückzugehen.
Doch "The Gentlemen" ist auf einer anderen Ebene auch so viel mehr als nur eine weitere Ritchie-Gangsterkomödie. Wer genau hinsieht, erkennt in diesem postmodernen Meisterwerk einen Metakommentar zur Kunst des Geschichtenerzählens. Gleich zu Beginn erklärt ein herrlich schleimiger Hugh Grant (in seiner besten Rolle seit Ewigkeiten!), dass die Geschichte, die er erzählen will, einem Film gleicht, der auf alten Filmrollen am besten aussähe und auf die große Leinwand gehöre. Er führt einen Protagonisten (Mickey Pearson) ein, er erläutert, warum ein Held einen Widersacher brauche und er springt in der Erzählchronologie auch gerne wieder ein Stück zurück, wenn er merkt, einen wichtigen Charakter vergessen zu haben.
Schnell wird klar: Hugh Grant spielt hier zwar angeblich einen Journalisten, doch in Wahrheit ist er ein Alter Ego von Guy Ritchie. Lustvoll klaut sich Fletcher aus dutzenden anderen Filmen Elemente für seine Nacherzählung zusammen (an einer Stelle erwähnt er sogar entschuldigend "Der Dialog" von Francis Ford Coppola und dessen "Der Pate"-Trilogie) – ganz so wie Ritchie selbst stets vorgeworfen wird, aus dem Fundus der Filmgeschichte zu zitieren.
Klasse und Masse gehen auch Hand in Hand
Gleichzeitig ist in "The Gentlemen" auch ein kluger Kommentar zum britischen Klassensystem versteckt. Die reichen Gangster meckern über den "Brexit", sprechen im Original mit vornehmen Cockney-Akzent (laut Titel sind diese Ganoven immerhin "Gentlemen"), doch wirkt sich ihre Schikane in erster Linie immer auf den schwachen Teil der Bevölkerung aus. Ritchie zeigt heruntergekommene Sozialwohnungen mit Drogenopfern, sozial schwache Jugendliche am Existenzminimum – im Kontrast zum prunkvollen Anwesen von Mickey Pearson, der seine Hanf-Plantagen in Höhlenkomplexen unter verarmten Adelssitzen tarnt. Eine bissige Sezierung des United Kingdom, die zu seiner üblichen Handschrift einen großen politischen Subtext addiert.
Dank einer fantastischen Besetzung kann der Meister sich auf seinem Regiestuhl zurücklehnen. Er weiß, die Schauspieler können seine Dialogperlen nur veredeln. Und in der Tat: Nichts macht mehr Spaß, als einem unfassbar selbstgefällig auftretenden Matthew McConaughey ("True Detective", "Interstellar") dabei zuzuhören, wie er sich mit einem Löwen im Dschungel vergleicht – und sich selbst als rechtschaffener Mann sieht, da er "harmloses" Cannabis statt gefährliches Heroin verkauft.
Und auch Colin Farrell, Eddie Marsan und Charlie Hunnam haben sichtlich Spaß daran, zusammen mit Ritchie die Grenzen der Political Correctness auszutesten. Als einer der schwarzen jugendlichen Boxer unter der Aufsicht von Farrell von einem anderen als "schwarzer Mistkerl" beschimpft wird, erklärt der Coach ihm, er dürfe da jetzt bloß kein Drama draus machen. Immerhin sei er ja ein Mistkerl, und schwarz sei er auch. Alles kein großes Ding also. Ritchies Figuren waren stets proletarische Alphamännchen – doch nie zuvor war das so vortrefflich unterhaltsam.
Der große Knalleffekt, der letzte Wumms, ist aber erst in den abschließenden zwanzig Minuten erreicht, wenn die Geschichte nach über einem guten Dutzend unerwarteter Wendungen und oft anfangs verwirrender Twists plötzlich mit offenen Karten spielt. Als Zuschauer muss man in "The Gentlemen" lange eine ganze Menge hinnehmen, doch am Ende folgt die Belohnung: So vielschichtig der Plot auch sein mag, so sauber wird er aufgelöst. Bis selbst der absurdeste Zufall der Handlung schließlich einen tieferen Sinn offenbart. Grandios!
Das Fazit zu "The Gentlemen"
Ein Joint mit Langzeitwirkung! "The Gentlemen" ist das Magnus Opum von Guy Ritchie, ein sofortiger Kult-Klassiker und trotz obercooler Gangster-Intrigen der vielleicht beste Film zur sozialen Lage im Post-Brexit-Großbritannien. Mehr Ritchie als hier geht nicht und wer das nicht mag, sitzt im falschen Saal. Aber warum sollte sich ein Meister auch zurückhalten? Wie Pearson sagt: "Es gibt nur ein Gesetz im Dschungel: Wenn der Löwe hungrig ist, frisst er!"
PS: Beim Abspann unbedingt sitzen bleiben: Hier findet Ritchie tatsächlich zu seinen Musikvideo-Wurzeln zurück. Ohrwurm-Gefahr und Lachmuskel-Explosion garantiert!
Den Trailer zum Film könnt ihr hier sehen: