Seit einigen Jahren geht Disney seinen Zeichentrickklassiker-Katalog durch und adaptiert viele der alten Hits als Realverfilmungen neu, darunter etwa "Cinderella", "Die Schöne und das Biest", "Mulan", "Der König der Löwen", "Dumbo" und erst vor Kurzem exklusiv bei Disney+ im Angebot "Peter Pan & Wendy". Jetzt hat es einen Film erwischt, den man als den wichtigsten Disney-Film seiner Ära beschreiben muss, da er den Konzern damals buchstäblich nach einer Reihe von Flops rettete: "Arielle, die Meerjungfrau".
Als das Original 1989 erschien, hatte das Micky-Maus-Unternehmen gerade eine Reihe von Flops produziert. "Arielle" war damals die letzte Hoffnung für die Trickfilmsparte – und eine Rückbesinnung. Hatte Disney zuvor mit Filmen wie "Taran und der Zauberkessel", "Oliver & Co." oder "Basil, der große Mäusedetektiv" vor allem experimentiert, war "Arielle" ein Prinzessinnenfilm, angelegt als großes Musical: Eine Rückkehr zur der Erfolgsformel, mit der Walt Disney selbst einst den ganzen Zauber startete, als er 1937 mit "Schneewittchen und die sieben Zwerge" die Filmwelt für immer veränderte.
Ohne "Arielle" gäbe es Disney heute gar nicht mehr
"Arielle" war ein Rückblick auf die alten Disney-Glanzzeiten und wurde selbst zum Vorbild für alle großen Disney-Erfolge der 90er und 2000er. Der wichtigste Erfolgsfaktor des Meisterwerks war die Musik: Für die Musical-Einlagen engagierte man den Komponisten Alan Menken und den Texter Howard Ashman, die gerade am Broadway mit "Der kleine Horrorladen" überraschend einen Hit gelandet hatten. Sie gewannen für "Arielle" zwei Oscars, sowohl für die beste Filmmusik als auch spezifisch für den besten Song.
Jetzt steckt Disney wieder in der Krise. Einige der letzten großen Remakes erwiesen sich finanziell als wenig ergiebig oder wurden klammheimlich im Streamingangebot veröffentlicht. Dort läuft es zudem auch nicht so gut wie erhofft, es häufen sich Meldungen über rückläufige Abo-Zahlen. Die Hoffnung liegt wieder auf "Arielle": Kann die Neuverfilmung wie ihr Original einst dem Konzern zu neuem Aufschwung verhelfen?
Nach mehr als 30 Jahren: Wenig Neues bei "Arielle"
Die Story ist wie bekannt: Arielle (Halle Bailey) ist eine Meerjungfrau, die eine Faszination für Menschen entwickelt hat und gerne mal die Oberfläche sehen würde – erst recht, als sie einen Prinzen (Jonah Hauer-King) nach einem Schiffbruch rettet und sich in ihn verliebt. Doch ihr Vater, der Unterwasserherrscher Triton (Javier Bardem) verbietet ihr Kontakt zu den – aus seiner Sicht gefährlichen – Menschen. Also geht Arielle mit der Meerhexe Ursula (Melissa McCarthy) einen Pakt ein: Sie gibt ihre wunderschöne Stimme ab, und wird dafür in einen Menschen verwandelt.
Risiken eingehen wollte man beim Klassiker-Neuaufguss nicht. Für die Neuverfilmung holte man den Disney- und Musical-erprobten Regisseur Rob Marshall ("Chicago", "Into the Woods"), das Drehbuch folgt sklavisch dem Original, alle Songs von Menken und Ashman werden brav gespielt, zudem hat Lin-Manuel Miranda, das Genie hinter dem Broadway-Megahit "Hamilton", noch ein paar neue Songs hinzugefügt. Kontroversen erzeugte im Vorfeld nur die Besetzung Arielles durch Halle Bailey. Dass eine Afroamerikanerin die im Original weiße Meerjungfrau spielt, erzürnte rassistische Internet-Trolle. Ihr toxisches Gemaule ist der Rede nicht weiter wert.
Alles wie früher, und doch ohne Zauber
Halle Bailey ist das Highlight des Films, ihre Besetzung ein Glücksgriff – obwohl man ihr ihre vergleichsweise geringe Schauspielerfahrung durchaus negativ anmerkt. Dennoch: Wie sie ihre Balladen mit Wucht und Verve schmettert, ist famos. Den großen Hit "Part of your World" singt sie gar besser, als er im Original ist. Ansonsten aber stimmt leider wenig bei "Arielle, die Meerjungfrau", obwohl man doch so dicht am alten Film geblieben ist. Die Geschichte ist dieselbe, die Szenen sind weitgehend identisch (man entfernte nur die herrlich morbide Sequenz, in der Krabbe Sebastian fast einem singenden Koch zum Opfer fiel – vermutlich wäre das in der realistischen neuen Optik zu hart für Kids gewesen).
Von Magie und Zauber und Wunder aber keine Spur. "Arielle" lebte wie nur wenige andere Zeichentrickfilme von seiner fantastischen Farbpracht, sei es die rote Mähne der Titelfigur, das kunterbunte Meeresgetier oder so phänomenale Szenen wie "Kiss the Girl": Arielle sitzt da mit ihrem Prinzen in einem Boot und wünscht sich sehnlichst einen Kuss von ihm. Da sie es aber ohne Stimme nicht kommunizieren kann, treten unzählige Fische, Krabben und Frösche auf und singen für sie ein Liebeslied, gerichtet an den Prinzen. Es ist eine der magischsten Szenen in der Geschichte Disneys. In der Neuverfilmung ist sie 1:1 übernommen worden – nun aber hocken die zwei Hauptdarsteller, die leider keinerlei Chemie miteinander haben, vor offensichtlich animierten dunklen Hintergründen, und gruselig aussehende Tiere performen ohne jeden Schwung den Gesang.
"Arielle" zeigt Disney in der Krise: Miese Effekte, keine Kreativität
Es war schon bei der "König der Löwen"-Neuverfilmung ein Problem. Der Versuch, alles fotorealistisch aussehen zu lassen, lässt jede Wirkung verpuffen. Oft wirkt es eher, als schaue man eine Tierdokumentation, unter die jemand einen Disney-Soundtrack gelegt hat. Krabbe Sebastian ist im Original eine liebevoll gezeichnete Figur, nun hat er eher etwas befremdlich Künstliches an sich. Die Unterwasserwelten sind zudem scheußlich dunkel ausgeleuchtet und die miesen Effekte wurden schon in den Trailern kritisiert, sie sehen auf der Leinwand nicht besser aus.
Alles am neuen "Arielle"-Film ist steif, ungelenk. Gute Darsteller wie Javier Bardem, Melissa McCarthy oder Art Malik bekommen wenig bis nichts zu tun. Kreativität scheint in der Inszenierung gar verboten, denn wann immer nicht Einstellungen exakt aus dem Trickfilm kopiert werden, hat Marshall wenig bis keine Einfälle, wie er Arielles Geschichte interessant bebildern soll. Die neuen Songs von Miranda sind zudem ein Graus, insbesondere eine lächerlich-aufdringliche Rap-Einlage hätte schon in der Konzepthase auf den Müllhaufen gehört.
Neue "Arielle" ist leider ein absolutes Desaster
Besonders ärgerlich: War "Arielle, die Meerjungfrau" im Original eine der feministischsten Geschichten, die Disney bis heute je erzählt hat, wirkt das Remake trotz Anpassungen an den jetzigen Zeitgeist konservativer – unter anderem weil man im Film mehrfach darauf zu verweisen versucht, dass Arielle natürlich auch ohne den Prinzen glücklich werden kann und stark sowie emanzipiert ist. Diese Meta-Kommentare schaden nicht nur der zentralen Liebesgeschichte, sie wirken gar rückständig. Die gezeichnete Arielle war einfach ein starkes Vorbild für kleine Mädchen. Es musste nicht extra ständig angedeutet oder ausgesprochen werden.
Am Ende ist die neue "Arielle"-Verfilmung aus filmtechnischen Gesichtspunkten ein Desaster. Hier stimmt fast nix: Die Optik ist hässlich und nahezu unangenehm, die damals nur 83-minütige Geschichte wird auf über zwei Stunden Laufzeit aufgebläht, die Gags sitzen nicht, die Musicalnummern laufen ohne kreative Bilder vor einem ab, die zentrale Romanze wird zu keinem Zeitpunkt spürbar, die Darsteller stehen, liegen und schwimmen oft in animierter Suppe herum und das große Actionfinale ist an Plattheit nicht zu überbieten. Dies ist kein Film, sondern ein lieb- und lebloses Produkt, einzig darauf abgerichtet, Kindheitserinnerungen zu triggern. Es ist die billigste Art von Entertainment: Nostalgie ohne Eigeninitiative, ohne eigenen Wert für sich.
War Disney nicht eigentlich mal für Kinder gedacht?
Und deshalb macht dieser Film so traurig. Hat Disney nicht ursprünglich mal Filme für Kinder produziert? Ging es nicht einst darum, sie in zauberhafte Welten zu entführen und sie an das Gute in der Welt und in den Menschen glauben zu lassen? Immer wieder verteidigen Disney-Fans die banalen und schludrig runtergefilmten Neuversionen damit, man würde so heutigen Kindern die alten Klassiker nahelegen. Aber wenn dieser neue "Arielle" für Kinder gedacht ist, muss man fragen: Warum gönnen wir den Kindern des Jahres 2023 nicht dieselben bunten Farben, dieselbe bombastische Optik und denselben Zauber von einst?
Bei Disney lässt man sich selbst nicht mehr begeistern oder überraschen, sondern wühlt in der Vergangenheit, macht sich möglichst wenig eigene Gedanken und die Kinder, tja, die wird das schon unterhalten. Einst haben diese Filme ihr junges Publikum ernstgenommen und begeistern wollen. Davon ist nichts mehr zu spüren.
Disney hätte jetzt dringend einen Film, wie es damals "Arielle, die Meerjungfrau" war, gebraucht. Einen Film, der so mitreißend, so charmant und so belebend ist, dass er dieses kreative Schwarze Loch und all seine Beteiligten aus der Lethargie reißt. Aber diese Filme wollen sie wohl nicht mehr machen. Zumindest sollte man hoffen, dass hinter all dem wirklich nur eiskalte Profitgier steckt. Sonst müsste das Fazit nämlich noch viel trauriger ausfallen und lauten: Disney kann es einfach nicht Meer.
"Arielle, die Meerjungfrau" ist seit dem 25. Mai 2023 in den deutschen Kinos zu sehen. Ab 6. September ist der Film im Abo von Disney+ verfügbar.