Generationen von Schulklassen wurden im Deutsch- oder Geschichtsunterricht mit "Im Westen nichts Neues" konfrontiert. Der Roman des Autoren Erich Maria Remarque von 1928 ist eines der prägendsten Bücher zum Thema Krieg, das je geschrieben wurde. Zwei Jahre später, 1930, wurde der Roman in den USA unter dem gleichen Titel verfilmt – und Filmexperten sagen gerne, dass sich die DNA dieser "Im Westen nichts Neues"-Verfilmung bis heute noch in jedem Kriegsfilm wiederfindet.
Es ist der größte Name, den dieses Genre zu bieten hat, größer als "Apocalypse Now", größer als "Die Brücke", größer als "Platoon". Der deutsche Filmemacher Edward Berger hat sich dennoch vorgenommen, diesen deutschen Roman erstmals auch aus Deutschland kommend zu verfilmen – und ist auf so positive Resonanz gestoßen, dass sein Film der deutsche Oscar-Beitrag 2023 sein darf. Ist ihm also ein großer Wurf gelungen? Absolut – und irgendwie auch nicht.
Was ist neu bei "Im Westen nichts Neues"?
Der Erste Weltkrieg verwüstet Europa. Der 17-jährige Schüler Paul Bäumer (Felix Kammerer gibt sein Spielfilmdebüt) sowie seine Freunde Albert (Aaron Kropp) und Frantz (Moritz Klaus) haben sich nach den patriotischen Reden ihres Lehrers freiwillig zum Kriegsdienst für das deutsche Kaiserreich verpflichtet. An der Westfront stellen sie schnell fest, dass es im Krieg keine Helden gibt – sie geraten von einem unbarmherzigen Gemetzel ins nächste. Zwar finden sie inmitten der Schützengräben auch Freunde, zum Beispiel den klugen Stanislaus Katczinsky (Albert Schuch), doch der brutalen Gewalt und den Maschinengewehrsalven kann niemand entkommen.
So weit ist die Handlung den Romanlesern bekannt. Doch Berger erzählt noch eine zweite, neu dazu erfundene Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert: Der liberale deutsche Diplomat Matthias Erzberger (Daniel Brühl) ist bemüht, einen Friedensvertrag mit den Alliierten auszuhandeln und so weiteres Blutvergießen zu verhindern. Doch die französischen Generäle haben nur wenig Interesse, Kompromisse einzugehen. Auch sein Einwirken auf Generalmajor von Winterfeldt (Tobias Langhoff) verpufft und er wird Tag für Tag verzweifelter …
"Im Westen nichts Neues" zeigt die volle Brutalität des Krieges
Zwar hat Berger diese historische Komponente dazu genommen, doch im Mittelpunkt seiner Verfilmung stehen (wie im Roman und 1930er Film) die Erfahrungen der jungen Männer, die Kriegsgräuel, das Leid. Eine der besten Szenen der Buchvorlage, in der Paul mit einem Franzosen im Trichter liegt, der langsam verstirbt, sein Leben regelrecht aushaucht, dauert hier ganze elf unerträglich-lange Minuten. Lange Schlachtszenen, unterlegt mit dröhnender Heavy-Metal-Musik, zeigen jede mögliche Grausamkeit, die Menschen im Krieg widerfahren kann: Die Inszenierung dessen ist absolute Weltklasse. Daran gibt es keine Zweifel. Man stelle sich in etwa vor, den Sturm auf die Normandie aus den ersten 15 Minuten von "Der Soldat James Ryan" hier als Langfilm präsentiert zu bekommen, für ganze 148 Minuten.
Bergers Ansatz steht darin im Einklang mit jüngeren Kriegsfilmen wie "Dunkirk" oder natürlich "1917", die sich ebenfalls darum bemühten, einzig die subjektiven Perspektiven der im Krieg geschädigten, traumatisierten und sterbenden Soldaten geltend zu machen. Es ist trostlos, bedrückend und über weite Teile kaum auszuhalten, was man zu sehen bekommt, audiovisuell muss sich Berger vor den ganz großen Hollywood-Beiträgen zum Sujet nicht verstecken. Er findet teilweise auch grandiose, kluge Bilder, um den maschinellen Umgang mit Menschenleben im Krieg zu visualisieren: Zu Beginn des Films wird ein Soldat von französischen Maschinengewehren getroffen und in einem Massengrab beerdigt. Seine Uniform wird ihm vorher abgelegt – und die Kamera begleitet diese Uniform, wie sie von Schneiderinnen geflickt und gereinigt wird, damit der nächste Soldat sie anziehen kann: Dieser nächste Soldat ist Paul, unsere Hauptfigur. Kein Held. Einer von vielen.
"Im Westen nichts Neues" bei Netflix: Was der Film nicht zeigt
Bergers Film ist keine Anklage, kein Bekenntnis, kein Geschichtsunterricht. Er zeigt die Natur des Krieges, die Schonungslosigkeit, den Dreck, die Brutalität. Blut spritzt immer wieder auf die Kamera, der Schlamm ist allgegenwärtig; selbst in den offenen Wunden der Soldaten. So großartig und abschreckend all das auch inszeniert ist, muss die Frage erlaubt sein: Wird "Im Westen nichts Neues" damit seinem großen Titel gerecht, seiner gewaltigen Vorlage? Denn die sich immer wiederholenden neuen Grausamkeiten und Perversitäten geschehen letztlich ohne das psychologische Fundament, ohne die morbiden und poetischen Zwischentöne, die sich im Roman und seiner Erstverfilmung überall finden lassen.
Im Roman gibt es ein langes Kapitel, in dem Paul auf Heimaturlaub ist und feststellt, dass man im Kaiserreich ganz andere Vorstellungen und Illusionen vom Leben an der Front hat, als es in der Realität abläuft. Er erkennt, dass er durch seine Traumata so von seinem alten Leben und seiner alten Heimat entfremdet wurde, dass er selbst in Fall eines Kriegsendes nie wieder das Leben führen könnte, aus dem er eins kam. Was später in vielen amerikanischen Filmen über die Heimkehrer aus Vietnam erzählt wurde (siehe "Die durch die Hölle gehen" oder "Taxi Driver"), wusste Remarque schon damals: Krieg ist ein Akt der Zerstörung, selbst für die, die mit ihrem Leben davonkommen. Von diesen fatalistischen, seelischen Narben erfährt man in Bergers Film nichts. Die "verlorene Generation", der Remarque ein Denkmal setzen wollte, wird zu einer geschichtslosen Masse an brutal sterbenden Kriegern.
Kurios: Warum heißt dieser Film "Im Westen nichts Neues"?
Durch diese thematischen Änderungen, durch das Auslassen dieser wichtigen, intimen Einblicke ins Soldatenleben könnten sich heutige Zuschauer gar fragen: Wo kommt eigentlich der Titel her? Im Roman ist es der letzte Satz, denn im Buch stirbt Paul an einem Tag, an dem es an der Front so ruhig ist, dass trotz seines Todes im Heeresbericht nur der Satz auftaucht: "Im Westen gibt es nichts Neues zu melden." Der Film von 1930 toppte diese tragische, herzzerreißende Komponente noch durch die legendäre "Schmetterlingsszene", die jeder in seinem Leben mindestens einmal gesehen haben sollte. Berger beendet seinen Film komplett anders, auf eine Weise, die viel zu typisch Hollywood ist – hier aber dennoch nicht verraten werden soll.
Der neue historische Handlungsstrang mag geglückt sein, zeigt er doch auf, dass der damals geschlossene Diktatfrieden, der den Ersten Weltkrieg beendete, schon die Saat für den folgenden Zweiten Weltkrieg legte. Doch ist dies nur ein schwacher Trost für all die Ambivalenz, die Bergers Film vermissen lässt, die diesen Stoff erst so bahnbrechend aktuell und erschütternd allgegenwärtig werden ließ. Wer zweieinhalb Stunden exzellente, unter die Haut gehende, abschreckende Kriegsbilder in technischer Perfektion sehen will, ist bei diesem "Im Westen nichts Neues" richtig aufgehoben. Ein intensiveres Filmerlebnis gab es dieses Jahr nicht – und Oscar-Chancen dürfte das Epos durchaus haben.
Wer aber mit diesem Stoff mehr als das verbindet, darf hinterher enttäuscht sein. "Im Westen nichts Neues" ist ein gelungener Film, aber eine misslungene Verfilmung.