Der nachfolgende Text gibt die persönliche Meinung eines Autors wieder und steht deshalb nicht repräsentativ für TV SPIELFILM.

Der 2014 verstorbene Schriftsteller Siegfried Lenz zählte zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit und Gegenwart und konnte schon zu Lebzeiten auf ein beachtliches Schaffen mit vielen Würdigungen zurückblicken. Die Veröffentlichung eines Romans konnte Lenz aber nicht mehr miterleben. Schon 1951 schrieb er den Roman "Der Überläufer", der aber sogleich vom einstigen Verlag aus politischen Gründen zurückgezogen wurde. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang blieb die Geschichte unter Verschluss, bis sie 2016 posthum veröffentlicht wurde und sofort zum Bestseller avancierte.

Das Erste hat sich des Buches angenommen und zeigt nun einen aufwendig produzierten TV-Zweiteiler. Der erste Part wird am heutigen 8. April um 20:15 Uhr ausgestrahlt, der zweite folgt dann Karfreitag, dem 10. April, ebenfalls zur Primetime. Regie führte der Oscarpreisträger Florian Gallenberger ("Colonia Dignidad"), vor der Kamera standen u. a. Jannis Niewöhner ("Narziss und Goldmund"), Katharina Schüttler ("Unsere Mütter – unsere Väter"), Bjarne Mädel (Der Tatortreiniger), Ulrich Tukur ("John Rabe") und Malgorzata Mikolajczak.

"Der Überläufer" im Ersten: Darum geht es

Der junge Wehrmachtssoldat Walter Proska (Jannis Niewöhner) landet im Sommer 1944 bei einer Gruppe versprengter Soldaten, die sich auf einem verlorenen Posten befinden und von einem sadistischen Unteroffizier befehligt werden. Dieser verlangt von ihnen menschenverachtende Dinge in den polnischen Wäldern. Doch das Aufeinandertreffen mit der polnischen Partisanin Wanda (Malgorzata Mikolajczak) sowie intensive Gespräche mit einem seiner Kameraden zwingen Walter zum Umdenken – auf einmal scheint sein Auftrag nicht mehr der richtige zu sein. Als er dann eines Tages in Gefangenschaft durch die Rote Armee gerät, bleibt ihm nur noch ein einziger Ausweg, um den Krieg zu überleben – er muss die Seiten wechseln

Romangetreue und stark gespielte Adaption

Fans und Kenner der Romanvorlage können sowohl aufatmen als auch frohlocken, denn Gallenbergers Verfilmung entpuppt sich als sehr werkgetreu – teilweise wurden sogar Textpassagen 1:1 in die Dialoge übernommen. Natürlich kommt keine Buchadaption ohne notwendige Veränderungen oder Kürzungen aus, doch diese wurden stets im Geiste von Siegfried Lenz gehandhabt und tragen sogar noch zur Verstärkung der Geschichte bei.

Erzählerisch bleibt "Der Überläufer" in der Grauzone zwischen Ideologie und moralischer Flexibilität haften: Das ganze Drama der Geschichte handelt von anerzogenen und erlernten Moralvorstellungen, die von außen korrumpiert sein können und selten von innen hinterfragt werden. Ein hochaktueller Ansatz und zudem eine kluge Analyse der damaligen NS-Gesellschaft. Dementsprechend verzichtet der Film weitgehend auf Schwarz-Weiß-Malerei, echte Helden gibt es jedenfalls nicht.

Getragen wird der Zweiteiler von einem schlichtweg großartig aufspielenden Jannis Niewöhner, der einen komplexen Part extrem glaubwürdig gibt und dadurch dringend notwendige Einblicke in das Innenleben seiner Figur gestattet. Dazu kommt noch eine bärenstarke Inszenierung: Dicht, packend, atmosphärisch und mit der nötigen Distanz zum Geschehen, sodass der Zuschauer selbst über die Ereignisse der Geschichte urteilen kann.

Schwache Romanze

Leider leistet sich "Der Überläufer" auch einige Schnitzer: So differenziert die Geschichte insgesamt erzählt wird, so werden doch die Antagonisten reichlich platt dargestellt. Das zeigt sich insbesondere im zweiten Teil, in dem die Konflikte allzu plakativ auf ein großes Finale hin zugespitzt werden. Dies ist zwar schon im Roman ein Schwachpunkt, gerät im Film aber dramaturgisch außer Kontrolle – Teil 1 ist von daher definitiv klar besser.

Zudem ist die im Film vorkommende Liebesgeschichte ein einziges Ärgernis: "Der Überläufer" rutscht dann immer wieder in Kitsch und vor allem Pathos ab und bedient so leider alle Klischees, die er ansonsten durch den Verzicht einer moralischen Beurteilung des Geschehens vermeidet.

Einigen Schwächen zum Trotz ist aber "Der Überläufer" sehenswertes Eventkino fürs Fernsehen, das insbesondere am Karfreitagabend für einige Kurzweil sorgen sollte.

Wer übrigens "Der Überläufer" im TV verpassen sollte, muss nicht verzagen: Bereits am 8. Mai 2020 erscheint das Drama auf DVD und Blu-ray über den Pandastorm Filmverleih. Dann kann man ja aus dem Zweiteiler sogar einen langen machen.

Für eine komplette Übersicht aller TV-Highlights zu Ostern 2020 kannst du auf unsere Übersichtsseite mit vielen weiteren Empfehlungen schauen.