Als Valentino Rossi im Jahr 2000 seinen ersten Sieg in der Königsklasse einfuhr, war Marc Márquez sieben Jahre alt. Seit nun fast zwei Jahrzehnten prägt Rossi den Motorradsport mit seiner fahrerischen Extraklasse und seiner Lässigkeit auf und neben der Strecke. Aber das lässt er die anderen Fahrer in keiner Sekunde spüren. Diesen respektvollen ­Umgang schätze ich sehr an ihm, denn bekanntlich hat er zugleich immer eine extreme Rivalität mit seinen größten Widersachern gepflegt. Solche Reibereien während der Rennen und danach in den Medien braucht Rossi einfach, um sich selbst zu pushen und auf dem höchsten Level zu fahren.
Max Biaggi, Sete Gibernau, Casey Stoner – die Liste der Konkurrenten, die "The Doctor" im Laufe seiner MotoGP-Karriere auf diese Weise irgendwann in den Griff bekam, ist lang. Doch dann betrat 2013 Marc Márquez die große Bühne. Der Spanier hatte schon in der 125er-Klasse mit unheimlichem Grundspeed und viel Fahrgefühl geglänzt, ohne dass er ­dafür viel trainieren musste. Bis heute verfeinert Márquez sein Können in der MotoGP immer weiter (inzwischen auch durch hartes Training), sodass er nach meiner Einschätzung schon ziemlich nah dran ist am Ideal eines perfekten Rennfahrers.
Der damals 20-Jährige bot dem großen Rossi sofort die Stirn und zeigte sich unbeeindruckt von den Spielereien des Altmeisters. Dennoch blieb die Rivalität zwischen den beiden Stars lange Zeit von gegenseitigem Respekt geprägt.

"Valentino Rossi sind Rekorde sehr wichtig. Ich bin mir sicher, dass er die 122 Siege von Giacomo Agostini unbedingt knacken will" (Stefan Bradl)

Als Wendepunkt gilt der sogenannte Sepang-Clash beim Grand Prix von Malaysia 2015, infolgedessen Rossi beim Saisonfinale in Valencia strafversetzt wurde und von ganz hinten starten musste. Was ihn womöglich den Titel kostete…
Wer glaubt, es gebe zwischen den beiden Kontrahenten in der neuen Saison nicht mehr genügend Zündstoff, weil Rossi sportlich zuletzt etwas ins Hintertreffen geraten ist, dürfte sich bald verwundert die Augen reiben. Schließlich war schon 2017 zu ­erkennen, dass Rossis Yamaha ohne entsprechende Investitionen ­Probleme bekommen würde, mit dem Entwicklungstempo von Honda (Márquez) und Ducati (Andrea Dovizioso) Schritt zu halten – dennoch eskalierte die Feindschaft 2018 beim Grand Prix von Argentinien erneut.
Dass Rossi in der letzten Saison erstmals seit 2012 überhaupt kein Rennen gewinnen konnte, dürfte ihm als Ansporn dienen, es dem vierzehn Jahre jüngeren Weltmeister noch einmal zu zeigen. Viel wird dabei von der Entwicklungsgeschwindigkeit abhängen, die das Yamaha-Werksteam an den Tag legen kann. Denn keine Frage: Die Japaner straucheln, und Márquez hat durch seine überragenden Erfolge (fünf WM-Titel in der MotoGP in sechs Jahren) schon mehr als einen Zacken aus der Krone der MotoGP-Überfigur Rossi gebrochen.
Andererseits bekommt Titelverteidiger Márquez mit dem dreimaligen MotoGP-Champ ­Jorge Lorenzo teaminterne Konkurrenz, die sich gewaschen hat. Wer sich wie Repsol Honda zwei ­solche Alphatiere als Nachbarn in die Box holt, hofft, dass sie einander gegenseitig noch besser machen. Zugleich muss er aber einkalkulieren, dass sie sich in der Weltmeisterschaft den einen oder anderen Punkt wegnehmen.
Auch darin liegt eine Chance für Rossi. Auf mich wirkt er auch mit seinen 40 Jahren noch hungrig genug. Rekorde bedeuten ihm etwas. Ich bin mir sicher, dass er die 122 Grand-Prix-Siege von Motorrad­legende Giacomo Agostini unbedingt noch knacken will. Aktuell steht Vale bei 115.
Stefan Bradl