Der Münsteraner Kommissar Thiel (Axel Prahl) wurde gleich zu Beginn von "Der Mann, der in den Dschungel fiel" (Regie: Till Franzen, Buch: Thorsten Wettcke) in einer Tiefgarage erschossen. Nur eine Finte mit der Flinte? Wie vieles in diesem 44. gemeinsamen Fall von Thiel und Rechtsmediziner Boerne (Jan Josef Liefers) war die Schussattacke am Ende ganz anders zu bewerten, als die Zuschauerinnen und Zuschauer anfangs vermuteten.

Grund für die Verwirrung war Thiels ehemaliger Mitschüler Hotte (Detlev Buck): Der Star-Autor litt an einer sogenannten Mythomanie. Doch was verbirgt sich genau hinter dem psychologischen Begriff? Und ist das Leiden für die Betroffenen heilbar?

Darum ging es im neuen Münster-"Tatort"

Vor 15 Jahren stürzte Hotte Koslowski mit einem Flugzeug über dem paraguayischen Dschungel ab. Über seine anschließende Zeit bei Ureinwohnern verfasste Hotte, der sich inzwischen Stan Gold nennt, den Bestseller-Roman "Der Mann, der in den Dschungel fiel". Als frischgekürter Stadtschreiber von Münster sollte er nun einen Nachfolgeroman in seiner alten Heimatstadt verfassen. Doch so weit sollte es nicht kommen, denn Stan erlitt einen anaphylaktischen Schock und wurde von Boerne mit einem gekonnten Luftröhrenschnitt gerettet.

Für die allergische Reaktion war jedoch nicht, wie anfangs vermutet, eine Biene verantwortlich, sondern eine mit Bienentoxin gefüllte Spritze. Dies fanden Rechtsmedizinerin Silke Haller (ChrisTine Urspruch) und Thiels Kollege Mirko Schrader (Björn Meyer) in akribischer Zusammenarbeit heraus. Als sie Hotte wenig später mit ihren Erkenntnissen konfrontierten, reagierte er mit einer abenteuerlichen Erzählung ...

Worum ging es wirklich?

Bis zur ersten richtigen und menschlichen Leiche vergingen im "Tatort: Der Mann, der in den Dschungel fiel" 68 Spielminuten. Zeit für eine Verschnaufpause hatten Hauptkommissar Thiel und seine Kollegen aber trotzdem nicht. Hotte Koslowski fütterte seinen ehemaligen Mitschüler unentwegt mit neuen abenteuerlichen Geschichten: Ein rachsüchtiger paraguayischer Guerilla-Kämpfer namens Pablo habe es auf ihn abgesehen.

Erst als Stans Agentin Sabina Kupfer (Eva Verena Müller) durch einen unglücklichen Zwischenfall starb, offenbarte ein in ihrem Zahn versteckter Mikrochip die wahre Geschichte. Koslowski war niemals im Dschungel, stattdessen saß er wegen eines Banküberfalls mehrere Jahre im paraguayischen Gefängnis. Für seine Falschaussagen konnte Hotte jedoch nur bedingt zur Rechenschaft gezogen werden, denn der Autor litt an Mythomanie.

Was verbirgt sich hinter Mythomanie?

"Mythomanie (auch Lügensucht, Pseudologia phantastica) ist die systematische Tendenz eines Menschen zu lügen und zu fabulieren, ohne dass es ihm tatsächlich bewusst wird", heißt es in einem Eintrag vom "Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik". Diese Form des pathologischen Lügens ist bislang zwar kein eigenständiges Krankheitsbild im internationalen Klassifikationssystem psychischer Störungen, gilt allerdings "als Zeichen für kognitive und psychoaffektive Unreife", wie es in dem "Online-Lexikon" heißt.

Symptome der Lügensucht

"Pseudologen lügen, dass sich die Balken biegen", erklärte Professor Boerne im "Tatort" richtig: "Sie versteigen sich darin in immer gigantischere Lügengebilde." Dabei ist das Erzählen der Lügen zwanghaft. Der oder die Betroffene kann also gar nicht anders, als sich immer wieder neue Geschichten auszudenken, mit denen er oder sie die Anerkennung und Beachtung anderer zu erreichen versucht. Anders als im "Tatort" falle es den Betroffenen in der Realität aber oft "schwer, reale Erlebnisse von imaginären Vorstellungen zu unterscheiden", wie es im "Online-Lexikon" heißt.

"Man muss davon ausgehen, dass der Betroffene kreativ ist und eine große Begabung für Fantasien und das Erfinden von Geschichten hat", beschreibt der Berliner Psychotherapeut Prof. Dr. Hans Stoffels in einem Interview mit der WDR-Wissenssendung "Quarks". Das sei zunächst eine positive Eigenschaft: "Aber ein Pseudologe ist häufig in Umständen aufgewachsen, die von großer Entbehrung, beispielsweise der elterlichen Zuwendung, gekennzeichnet sind. Seine große Fantasie ist dann das Mittel, mit dem er diese Realität verändert und die traumatischen Umstände 'bewältigt."

Diagnose der Lügensucht nicht immer leicht

Die Diagnose einer Lügensucht sei für Ärzte nicht immer leicht, erklärt Stoffels weiter: "Menschen, die aus nicht-krankhaften Gründen lügen, verstecken sich manchmal hinter der Diagnose und behaupten: Ich kann nichts dafür, ich bin krank! So muss der Psychotherapeut genau hinschauen und eine tiefgehende Exploration vornehmen, um das Krankheitsbild zu erkennen und eine Therapie einzuleiten." Auch ist es möglich, dass krankhaftes Lügen als Begleiterkrankung einer Persönlichkeitsstörung oder einer anderen psychischen Erkrankung auftritt.

Einem Artikel des Lifestyle-Magazins "wmn" zufolge verzetteln sich an Lügensucht erkrankte Menschen in ihren eigenen Unwahrheiten, wodurch "bestimmte Aussagen gegebenen Fakten widersprechen". Auch orientierten sie sich bei ihren Erzählungen mitunter an bekannten Geschichten. Weitere Anzeichen seien dem Artikel zufolge ununterbrochener Blickkontakt zum Gegenüber und eine höhere Stimmlage.

Ist Mythomanie heilbar?

Bei Kindern und Jugendlichen sind lügnerische Phasen meist normal und vergehen in der Regel nach einiger Zeit. Bei Erwachsenen hilft meist nur eine Therapie: "Das geht in der Regel über mehrere Stufen", erklärt Stoffels: "Wichtig ist, dass Therapeuten den Patienten nicht als Lügner abtun, sondern seine Not erkennen. Zuallererst muss das Selbstwertgefühl wieder stabilisiert werden. Dann werden Situationen durchgesprochen, in denen die Versuchung zur Lüge auftritt. Dabei muss stets darauf geachtet werden, dass der Pseudologe nicht nur andere Personen anlügt, sondern die Lügengeschichte selbst glaubt und sich auch selbst täuscht."

Einer vollständigen Heilung sieht der Experte durchaus optimistisch entgegen: "Wenn es gelingt, die kreative Begabung der Betroffenen in eine andere Richtung zu lenken, kann sich dies positiv auswirken." Wichtig sei, die Angehörigen des Betroffenen mit ins Boot zu holen.

Im Frühjahr geht es mit dem Münster-"Tatort" weiter

Um Boernes Theorie des an Mythologie erkrankten Autors zu beweisen, opferte sich Thiel am Ende selbst: Schrader spielte Pablo und erschoss Thiel vor den Augen Hottes. Natürlich trug der Kriminalhauptkommissar eine entsprechende Schutzvorrichtung am Körper.

Deshalb dürfen sich die Fans auch schon jetzt auf einen 45. Fall der Kult-Ermittler aus Münster freuen: In "Unter Gärtnern" steht der Tod von Sabine Schmidt (Sibylle Canonica) im Zentrum, neben derer Leiche zwei ebenfalls tote Eichhörnchen gefunden werden. Die Dreharbeiten fanden im Herbst in Münster, Köln und Umgebung statt. Ein genauer Sendetermin steht noch nicht fest, dürfte dem alten Rhythmus folgend jedoch irgendwann im Frühjahr liegen.

Das Original zu diesem Beitrag "Mythomanie – Wie realistisch war der Münster-"Tatort"?" stammt von "Teleschau".