Spannendes Eventfernsehen ist in den 2020ern ein aussterbendes Medium. Nicht umsonst werden unzählige alte Show-Dinosaurier wie "Die 100.000 Mark Show", "Der Preis ist heiß" oder "Dalli Dalli" mittlerweile neu aufgewärmt, um wenigstens das ältere TV-Publikum mit nostalgischen Gefühlen zu ködern. Auch das Zeitalter der quotenstarken Spielshows ist vorbei. Einen sicheren Hit wie "Schlag den Raab" sucht man weit und breit vergeblich, selbst "Das Duell um die Welt" von Joko und Klaas ist längst eher TV-Alltag als ein waschechtes Ereignis.
Aber es gibt einen Lichtblick im deutschen Show-Fernsehen: "99 – Einer schlägt sie alle!" heißt das Format, und läuft derzeit bei Sat.1 in einer neuen Staffel. Das Prinzip ist recht simpel: 100 Kandidaten und Kandidatinnen treten an und absolvieren insgesamt 99 verschiedene Spiele. Nach jeder Partie scheidet derjenige aus, der auf dem letzten Platz landet. Wer ganz am Ende übrigbleibt, gewinnt 99.000 Euro. Ein geniales Prinzip – und in seiner schlichten Effizienz liegt sein großes Alleinstellungsmerkmal.
Fernsehen als Abzählreim: Was macht "99" so besonders?
In mancher Hinsicht ist "99 – Einer schlägt sie alle!" eine ungewöhnliche Sendung fürs deutsche Fernsehen – denn sie verzichtet auf die obligatorischen Storytelling-Mechaniken, die in diesen Sendungen sonst gerne bemüht werden. So gibt es hier beispielsweise keinen "inszenierten" Gegenspieler, keinen Antagonisten. Bei Formaten wie "Schlag den Raab" leben die Sendungen vom Underdog-Prinzip: Man will sehen, wie ein Normalo die künstlich gepushte Lichtgestalt (in dem Fall Stefan Raab) bezwingen kann. "99" hat sowas nicht. In den ersten Spielen hat man als Zuschauer logischerweise noch gar keinen genauen Überblick über all die, die da teilnehmen.
Auch ansonsten hält sich "99" mit manipulativen und emotionalisierenden Elementen zurück. Ausgeschlachtete tragische Familienschicksale sucht man genauso wenig wie das aufgesetzte Einteilen der Kandidaten in Stereotype (man kennt es beispielsweise aus "Germany's Next Topmodel" oder "Big Brother", dass seitens der Produktion schnell "die Zicke", "der Macho", "der Draufgänger" und "die Beauty-Queen" bestimmt werden). Tatsächlich geht es in "99" einzig und allein um die (recht einfachen) Spiele und die Leistungen der Teilnehmer.
Spannung im TV: "99" zeigt, wie "einfach" das ist
In dieser Form ist das fürs Fernsehen eine Seltenheit – und man könnte meinen, da die Bindung zu den einzelnen Kandidaten fehlt, bleibt auch die Spannung aus. Doch "99" funktioniert gerade durch seine bewusste Offenheit. Nicht nur mutmaßt vorm heimischen Fernseher jeder für sich mit, wie gut er in den einzelnen Spielen abgeschnitten hätte und wie lange man selbst durchhalten würde. Man entdeckt auch ganz von selbst Figuren, denen man gerne folgt. Ob das der Landwirt ist, der in jedem Spiel als einer der ersten schon fertig ist oder die Bäckereiverkäuferin, die es in jeder Runde gerade so knapp schafft, wieder nicht auf dem letzten Platz zu landen. Guckt man die Sendung auf dem Sofa mit der ganzen Familie, wird jeder für sich eine andere Person ausmachen, die man besonders im Auge behält.
"99" hat vom Konzept her etwas, das so viele TV-Sendungen nie gut hinbekommen: Fallhöhe. Die meisten Spielshows kompensieren diese mit Geld: Wenn man gewinnt, wird man Millionär oder bekommt zumindest eine hübsche Summe. Wenn man verliert, dann nicht. In "99" mag Geld das Endziel sein, doch je länger die Sendung läuft, umso stärker wird das Mitfiebern mit den Kandidaten. Ob man bei "99" gleich zu Beginn ausscheidet oder unter den letzten vier landet: Gewinnen kann wirklich nur einer. Und das bedeutet: Je enger es wird, umso mehr bangt und fühlt man mit jedem, der so kurz vorm Ziel doch noch gescheitert ist.
Gutes Fernsehen braucht keine aufgesetzten Emotionen und künstliche Spannungsmomente. Alles, was gutes Fernsehen braucht, ist ein spannendes Konzept und ein Sender, der darin vertraut. Schön, dass es zumindest hin und wieder noch solche Formate gibt.