"1899" dürfte momentan das bekannteste Beispiel für eine vorzeitige Absetzung sein. Die Serie war bei Netflix eigentlich auf drei Staffeln ausgelegt, doch der Streamingdienst setzte nach der ersten Season den Rotstift an. Klar gibt geringer Erfolg einer Serie immer das recht, sie wieder abzusetzen, doch die aktuelle Strategie wirft Fragen auf.

In den letzten Monaten bzw. sogar Jahren folgte eine Absetzung auf die nächste. Das plötzliche Ende von "Glow" schmerzte die Serienjunkies weltweit wohl am stärksten, aber auch die Superheldenserie "Jupiter's Legacy", die Sherlock-Holmes-Adaption "Die Bande aus der Baker Street", der Teenie-Hit "I Am Not Okay With This" und die Coming-of-Age-Dramedy "Everything Sucks!" endeten alle nach der ersten Staffel – und alle mit einem Cliffhanger, ohne richtiges Ende. Wenn das so weitergeht, wird Netflix seine Kunden auf Dauer vergraulen.

Warum Absetzungen einen Teufelskreis auslösen

Warum Netflix all diese Serien abgesetzt hat, mag klar sein: Es geht um das liebe Geld! Keine der Serien wird der ganz große Hit gewesen sein. Und selbst die, die es sind, brachten Netflix nicht weiter: Für den Streamingdienst lohnen sich nur Serien, die neue Abonennten generieren. Läuft eine Serie wie "Glow" über mehrere Jahre auf hohem Niveau, mag sie zwar erfolgreich sein, bringt aber mit jeder weiteren Staffel trotzdem kein Plus an Neukunden. Also zieht Netflix den Stecker.

Das ist ärgerlich, weil es das Vertrauen der Kunden in Netflix enttäuscht. Warum noch eine Serie anfangen, wenn diese vielleicht mittendrin abgesägt wird? So entsteht ein Teufelskreis. Zuschauer haben gar kein Interesse, eine junge Serie wie "1899" anzugucken, da sie eh befürchten, die Serie würde kein Ende finden. Und weil so die Zahlen der Serie schlecht aussehen, setzt Netflix sie auch folgerichtig nach einer Staffel ab.

Netflix: Vom Paulus zum Saulus

Der Ruf von Netflix hat sich durch die Absetzungspolitik gewandelt. In seiner Blütezeit wurde der Dienst bekannt, weil er Serien nach ihrer Absetzung durch einen TV-Sender rettete: "Designated Survivor" wurde bei Netflix fortgesetzt, "Arrested Development" ging weiter, "The Killing" bekam eine weitere Chance. Es gäbe noch viele weitere Beispiele. Sogar alte, schon zu den Klassikern zählende Serien wurden von Netflix neu fortgesetzt, man denke an den Erfolg von "Fuller House" oder das kontroverse "Gilmore Girls: Ein neues Jahr".

Solche Rettungsaktionen sind mittlerweile selten geworden. Und bis auf wenige Highlights wie "The Crown" scheint bei Netflix nicht mehr viel überleben zu dürfen. Anders sieht das bei der Konkurrenz aus: Der oft geschmähte, kaum in Deutschland genutzte Streamingdienst Apple TV+ hat seinen (zugegeben geringen) Output nahezu vollständig verlängert, gab anfangs wenig vielversprechenden Serien wie "For All Mankind" oder auch "See – Reich der Blinden" die Chance auf eine zweite Staffel – und die Serien haben sich in diesen prächtig entwickelt. Selbst BBC Studios und Amazon Prime Video haben überraschend beispielsweise "Good Omens" um eine zweite Staffel bereichert. Da geht einem als Serienfans das Herz auf, aber es stellt sich auch die Frage:

Wenn die bei Apple und Amazon es können, warum dann ihr nicht, Netflix?