Mit "Dark" haben sie bei Netflix nicht nur einen Hit gelandet, sondern auch gezeigt, welch qualitativ hochwertiges Erzählen aus Deutschland möglich ist: Das Kreativ-Duo Jantje Friese und Baran bo Odar muss sich niemandem mehr beweisen. Ihre neue Serie ist alleine deshalb schon hitverdächtig, weil sie eben von ihnen ist. Sie heißt "1899", ist jetzt bei Netflix erschienen – und eine absolute Sensation!

Bei "1899" handelt es sich um eine Serie, die man gesehen – oder besser: erlebt – haben muss. Ohne Frage ist diese neue Produktion ein Meisterwerk. Sie sieht fantastisch aus, hat ein grandioses Ensemble an Bord, wichtiger aber noch: Sie erzählt eine aufregende, experimentelle und spannende Geschichte, die zwar vor über 120 Jahren angesiedelt ist, aber unmöglich noch aktueller und gegenwärtiger sein könnte.  

Worum geht's? Das ist bei "1899" schwer zu erklären

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Das Ensemble von "1899" ist gewaltig, aber auch sensationell.

Oktober im Jahr 1899: Auf dem Passagierschiff Kerberos versuchen zahlreiche Auswanderer, Europa zu verlassen und nach New York zu reisen. Sie alle träumen dort von einem neuen, besseren Leben. Unter ihnen ist eine englische Ärztin (Emily Beecham), die eigene Pläne verfolgt. Ihr Bruder war vor vier Monaten Passagier auf der Prometheus, dem Schwesterschiff der Kerberos, doch das Schiff verschwand auf offener See spurlos, mit allen 1423 Seelen an Bord. Sie hofft, herauszufinden, was geschehen ist. Sie hat Glück: Bei der Überfahrt empfängt der Kapitän (Andreas Pietschmann) tatsächlich ein Notsignal und lässt dafür den Kurs ändern. Sie finden die Prometheus – doch bis auf einen einzigen Passagier, einem kleinen Jungen, ist das gewaltige Schiff wie leergefegt.

Mit diesem Fund endet die erste von insgesamt acht einstündigen Folgen und mehr sollte man auf keinen Fall vorher verraten, denn ein Großteil dieser Serie lebt von den rätselhaften Mysterien, den komplexen Geheimnissen und der unheilvollen Atmosphäre. Es gibt noch einen Haufen weiterer Charaktere an Bord der Kerberos, die alle ihre eigenen Handlungen haben: Mitarbeiter im Maschinenraum, ein sich hassendes Ehepaar aus Frankreich, arrogante spanische Edelleute und holländische Migranten auf dem Unterdeck, um nur einige zu nennen. Sie alle erleben ihre Geschichten, und doch sind all ihre Schicksale unweigerlich miteinander verknüpft, teils sehr direkt, teils auf metaphysische Art und Weise. Denn – nach "Dark" dürfte das klar sein – schnell geht es hier nicht nur nicht mehr mit rechten Dingen zu, sondern ein gar übernatürlich-mystischer Einschlag kehrt ein auf der Kerberos.

Hat Netflix je etwas gemacht, was so gut wie "1899" ist?

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Für Deutschland ist diese Serie eine Revolution: "1899" wurde mit der innovativ-neuartigen Volume-Technologie gedreht.

Nach dem Mega-Erfolg von "Dark" durften Jantje Friese und Baran bo Odar sich wahrlich austoben: "1899" ist eine Serie auf technisch allerhöchstem Niveau. Als erste deutsche Produktion entstand sie mittels der noch neuartigen Volume-Technologie, bei der die Schauspieler nicht mehr vor einem Greenscreen agieren, sondern die Hintergründe im 360-Grad-Winkel um sie herum mittels LED-Wänden hergestellt werden. Das Verfahren kam bislang nur u.a. bei unschätzbar teuren Disney-Produktionen wie der Serie "The Mandalorian" zum Einsatz. Für Europa ist "1899" also schon hinsichtlich der Machart revolutionär, und es ist ein Segen, wie hervorragend Kameramann Nikolaus Summerer mit diesen Mitteln umzugehen weiß und Bilder von überragender Schönheit und Spannung erzeugt. Selbiges gilt für die famose Arbeit von Szenenbildner Udo Kramer – beide arbeiteten schon bei "Dark" mit Friese und bo Odar zusammen.

Die Atmosphäre und tiefe Faszination für all die Geheimnisse, das Angedeutete, das Unausgesprochene, sie sorgen schon nach wenigen Minuten für eine unheimliche Sogwirkung. Genial sind insbesondere sämtliche Schauspieler, die hier allesamt übrigens in ihrer Muttersprache reden, soll heißen: Die Engländer sprechen englisch, der deutsche Kapitän parliert auf deutsch mit seiner Crew, die Spanier oder Holländer bleiben meist unter sich und verstehen die anderen so wenig wie sie selbst verstanden werden. So verstärkt sich die Aura des Geheimnisvollen und nur die Untertitel ermöglichen es uns, die Sprachbarrieren zu überwinden (außer man guckt in der deutschen Synchronfassung, die leider einfach alle Dialoge eindeutscht – womit viele Szenen nur noch begrenzt Sinn ergeben).

Wenn dann die erste Folge in einer gruselig-geistreichen Montage zur Musik des Hippie-Rockklassikers "White Rabbit" von Jefferson Airplane endet und einen nicht endenden Gänsehaut-Strom verursacht, ist man gar versucht zu sagen: Etwas so Grandioses hat Netflix nie zuvor produziert.

"1899" macht gewaltiges Versprechen! Wird es eingelöst?

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Selbst das offizielle Plakat zu "1899" ist ein einziges, verlockendes Geheimnis.

Seit "The Wire" und "Deadwood" hat keine Serie mehr Fremdmusik (also lizensierte Songs) so phänomenal eingesetzt wie es jetzt "1899" gelingt. Spätere Montagen und Szenen etwa, die "Child in Time" von Deep Purple oder "The Wizard" von Black Sabbath ertönen lassen, sind schon jetzt als Serienhöhepunkte des Jahrzehnts nominiert. Übrigens: Bereits das Intro (hier läuft ebenfalls "White Rabbit", aber als modernes Cover) ist ein Kunstwerk für sich, zeigt einen Haufen an Motiven und Silhouetten im Stil eines "James Bond"-Vorspanns. Wer die Geheimnisse hinter "1899" und seinem komplexen Geflecht aus Figuren entziffern will, sollte den Vorspann und seine Symbole, Farben, Formen und Muster unbedingt berücksichtigen.

Sechs der acht Folgen bekam die Presse vorab zu sehen und in ihnen jagt ein Highlight das nächste. Fesselnde Szenen voller Anspannung und Beklommenheit sowie brillante Dialoge folgen in Windeseile aufeinander und die Serie findet in den sprachlichen Unterschieden der Passagiere ihre Aktualität. Hier geht es letztlich um Verständigung, darum, sich auszudrücken, füreinander einzustehen und zusammenzuhalten – selbst wenn man sich sprachlich nicht versteht. Man kann "1899" durchaus als eine moderne Version der Geschichte vom Turm zu Babel deuten, wie als Plädoyer für Völkerverständigung und europäische Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg.

Bei Mystery-Serien steht immer eine Frage im Raum: Kann all das vernünftig aufgelöst werden? "1899" bekommt hier einen immensen Vertrauensvorschuss, denn Jantje Friese und Baran bo Odar haben bei "Dark" jedes Geheimnis gelüftet, jedes Rätsel gelöst, jede Frage beantwortet. Sie haben in drei Staffeln bewiesen, dass sie die noch so verworrensten Plots unter Kontrolle kriegen, sich das Miträtseln und Knobeln auszahlt. Dieses Versprechen macht jetzt auch "1899". Die restlichen zwei Folgen müssen zeigen, ob es eingehalten wird. Hoffentlich noch nicht – eine zweite Staffel wäre schließlich eine der besten Nachrichten, die man seit langer Zeit von Netflix vernehmen durfte.