Achtung, der folgende Text enthält Spoiler zur vierten Staffel "Tote Mädchen lügen nicht"! Zudem gibt er die persönliche Meinung eines einzelnen Autors wieder und steht deshalb nicht repräsentativ für TV SPIELFILM.

2017 erschien die erste Staffel von "Tote Mädchen lügen nicht" bei Netflix, die sich nicht nur rasch zum enormen Erfolg mauserte, sondern auch auf jede Menge Widerstand stieß. Die sensiblen Themen wie Selbstmord unter Teenagern, Mobbing und Vergewaltigung und deren Darstellung waren vielen ein Dorn im Auge, weshalb sogar nachträglich die Schere angesetzt wurde.

Nun ist jüngst die vierte und damit letzte Staffel der Serie erschienen, die u. a. mit realen Hintergründen aufzurütteln vermag. Doch nach einem Binge-Marathon am vergangenen Wochenende bleibt mir nur ein Fazit: Endlich ist es vorbei!

Tote Mädchen lügen nicht: Toller Start…

Eins vorab: Ich mochte die erste Staffel von "Tote Mädchen lügen nicht". Sehr sogar. Hannah Baker ist eine zumindest in der ersten Staffel äußerst sympathisch geschriebene Figur, die ich in mein Herz schloss und die von Katherine Langford wunderbar zum Leben erweckt wurde, weshalb mir ihr Schicksal besonders nahe ging. Und die Romanze zwischen ihr und Clay (Dylan Minnette), die sich stets andeutete, aber ultimativ nicht sein durfte, stimmte mich unendlich traurig – wie sehr wollte ich in Momenten wie dem gemeinsamen Tanz beim Schulball die Prämisse der Serie vergessen und beiden die Daumen für ein klein wenig Glück auf diesem Planeten drücken.

Trotz kleiner dramaturgischer Redundanzen und Wiederholungen fand ich die Serie bis dahin wirklich sehenswert: Zwischen einem starken Katalysator (Hannahs Selbstmord) und einer klaren Richtung (die Kassetten durchhören und so kontinuierlich zur Auflösung kommen) wurden die vielen aufgemachten Themenfelder konzentriert beisammengehalten, wodurch sich ein stimmiges Ganzes ergab. Das Verhältnis zwischen Hannah und Clay wiederum verlieh der Auftaktstaffel eine bittersüße Atmosphäre und machte einen wichtigen Aspekt besonders spürbar: den Verlust. Den Verlust einer großen Liebe, die niemals aufblühen durfte, weshalb ich die erste Season unfassbar tragisch finde. Subtilität ist natürlich bereits zu Beginn keine große Stärke des Titels, aber zunächst überwogen für mich die positiven Aspekte deutlich.

…und dann?

Einzig die erste Staffel von "Tote Mädchen lügen nicht" basiert auf der Buchvorlage von Jay Asher, danach haben Serienmacher Brian Yorkey und sein Team diese eigenständig weitergesponnen. Das macht sich direkt bemerkbar: Staffel 2 ist beispielsweise dramaturgisch oft repetitiv, später werden neue Figuren eingeführt und wieder vergessen (Nina?), andere alte Bekannte rücken bis zur Unsichtbarkeit in den Hintergrund – in der letzten Episode der vierten Staffel ist Courtney (Michele Selene Ang) wieder zu sehen und ich dachte mir nur: "Ach ja, die gab's ja auch noch! Wo war die denn die ganze Zeit?"

Im Laufe der Zeit entfernt sich die Serie immer weiter von ihrem Kern und erzeugt in meinen Augen künstlich neue Konflikte zwischen den Figuren, während sie thematisch weiter ausfranst. Die On-Off-Beziehung zwischen Justin (Brandon Flynn) und Jessica (Alisha Boe), bei der zwischenzeitlich auch Alex (Miles Heizer) mitspielt, entwickelt zum Beispiel einen zunehmenden Frustfaktor, da sie sich ultimativ nur noch im Kreis dreht. Apropos Justin: Ich denke, dass er eigentlich eine wunderbare Entwicklung durchmacht – die dann aber nur um des Schockfaktors willen wieder zunichte gemacht wird. Und das nicht nur einmal. Rückblenden interpretieren vergangene Geschehnisse völlig neu und lassen Figuren ganz anders erscheinen unter dem Vorwand, dass ja Menschen so seien, sich entwickeln und es immer mehrere Perspektiven gebe, was allerdings eher für zunehmende drehbuchtechnische Inkohärenz sorgt. Tonal wird aus dem Teeniedrama später eine Krimigeschichte, die in Staffel vier absurderweise auch noch einen Hauch von Horror verpasst bekommt. Und wie können diese Kids im Anbetracht des ganzen Chaos um sie herum überhaupt noch beim Abschlussball feiern? Auch das ist in der extremen Stimmungsschwankung fast schon unglaubwürdig – aber hey, pubertierende Teenager, nicht wahr?

Übrigens, würde ich ein Trinkspiel draus machen und jedes Mal, wenn in der Serie sinngemäß "Bist du ok?" oder "Warum hast du mir das nicht früher gesagt?" gefragt wird, einen Shot trinken, ich wäre schon mindestens dreimal an Alkoholvergiftung gestorben. Ja, es kam der Moment, an dem ich dann die Nase voll hatte von all den dümmlichen Skriptentscheidungen, um die vermeintliche Spannung am Leben zu erhalten, indem beispielsweise die Figuren wiederholt Dinge tun oder für sich behalten, obwohl sie auch mindestens genauso oft geschworen haben, es beim nächsten Mal besser zu machen. So werden neue Probleme an den Haaren herbeigezogen, aber eigentlich verkommt "Tote Mädchen lügen nicht" dadurch nur zur regelrechten Déjà-vu-Parade.

Projektionsflächen gesellschaftspolitischer Relevanz

Aber "Tote Mädchen lügen nicht" ist doch so wichtig! Auf keinen Fall will ich mit meiner Kritik an der Serie die Notwendigkeit von Themen wie Mobbing, Sexismus, Feminismus, Suizid, toxische Maskulinität, Waffengewalt, seelische Gesundheit, Homosexualität, Polizeigewalt, Vergewaltigung, Abtreibung…uff, Moment mal. Das ist verdammt viel Stoff, den zu erörtern sich die Macher auf die Fahne geschrieben haben.

Vielleicht zu viel? In der Serie wird jedenfalls klar zu all den Themen Stellung bezogen, "Tote Mädchen" ist ein lauter Rundumschlag der gesellschaftspolitischen Relevanz. Einer, bei dem den Figuren unmissverständliche Ansagen in den Mund gelegt werden und die so, wie ich finde, immer mehr zu Projektionsflächen degradiert werden, je weiter die Serie voranschreitet. Derlei Sujets werden dem Zuschauer vor dem Bildschirm regelrecht ins Gesicht gebrüllt und im Grunde genommen handelt es sich bei der Serie um ein einziges riesengroßes Demo-Transparent, auf dem Sprüche zu all diesen Themen geklatscht wurden.

Ist das gut und wichtig? Sicher, wobei diese Frage am Ende jeder für sich selbst beantworten muss. Macht das aber "Tote Mädchen lügen nicht" automatisch zu einer guten Serie? Ganz sicher nicht. Denn mitunter konnte ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass Figuren und erzählerischer Fokus in ihrer Ausführung plumpen und plakativen Statements geopfert werden, die dann von der Handlung an sich ablenken.

Im Idealfall gelingt einem Film oder einer Serie der Spagat aus einer guten Erzählung, die zum Nachdenken anregt. Bei "Tote Mädchen lügen nicht" hat man sich dagegen den künstlerischen Muskel gerissen, weshalb zumindest ich froh bin über das Ende dieses Trauerspiels. Mögen von daher die "Toten Mädchen" endlich und für immer in Frieden ruhen.