Um es direkt vorwegzunehmen: "Die lange Nacht" ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wieviel Opulenz und Bildgewalt in TV-Bildern stecken kann. Wer braucht noch einen Kinobesuch, wenn er sich solche High-End-Qualität ins Haus holen kann? Der "Game of Thrones"-Regisseur Miguel Sapochnik hat nach allen Regeln der Kunst Spektakel abgeliefert, so wie er es auch schon bei der längst legendären "Schlacht der Bastarde"-Episode in der 6. Staffel tat.

Allerdings muss auch Kritik an einer Serienepisode erlaubt sein, über die Macher und Darsteller vorab stolz Superlative noch und nöcher verkündeten: Mehr als 55 Nächte habe man in Schlamm und Schnee gedreht, 11 Wochen zogen sich allein die Dreharbeiten hin, die Post-Produktion sei so langwierig gewesen, wie nie zuvor. Hinzu kommt ein kolportiertes Budget von 15 – 20 Millionen Dollar auf eine Rekord-Laufzeit von 82 Minuten. Wenn sich eine Serie an hohen Maßstäben messen lassen will, dann ist Episode 3 aus Staffel 8 die ideale Gelegenheit.

Fünf bekannte Tote unter einem Berg von Leichen

Die "Game of Thrones"-Showrunner David Benioff und D.B. Weiss liefern mit der dritten Episode ihr erstes Drehbuch in Staffel 8, die nächsten drei Skripte für die letzten Folgen stammen ebenfalls aus der Feder der zwei GoT-Masterminds. Das Schlacht-Epos bildet somit den Auftakt zum Schlussspurt und die Bilanz fällt unerwartet aus: Jorah und Lyanna Mormont, Edd Tollett, Theon Graufreud, Melisandre und Beric Dondarrion sind tot. Für eine mal als kompromisslos geltende Fantasyserie ist das eine überschaubare Todesliste. Bei "Game of Thrones" wurden schon in deutlich weniger bedrohlichen Szenarien Figuren verabschiedet. Mal ganz davon abgesehen, dass zwar Berge von Leichen in und um Winterfell herum zu sehen sind, aber nur fünf sprechende Charaktere im Kampf ihr Leben lassen mussten, Melisandre wählte ihr Schicksal schließlich selbst. Zwar sind Drachen, Hexen und Untote auch nicht realistisch, aber seit Anbeginn Teil der in sich geschlossenen Erzählung aus Westeros.

Für den Nachtkönig und seine Horden fällt das Fazit vernichtend aus: Kein einziger überlebt. Viserion, die Weißen Wanderer, der Nachtkönig selbst und seine gesamte Armee der Toten. Tot. Der größte Bösewicht der letzten zwei, wenn nicht gar drei Staffeln wurde mal eben ausradiert und löste sich samt all seiner Gefolgsleute wie die Helden am Ende von "Avengers: Infinity War" in Luft auf. Über die unzähligen mystischen Verbindungen zwischen Bran und dem Nachtkönig herrscht nun Unklarheit, genauso über die Hinweise wie die zuletzt in Folge eins prominent in Szene gesetzte Feuerspirale im Hause Umber. Im Nachhinein muss konstatiert werden: Symboliken wurden überinterpretiert, Querverbindungen erschlossen, die in den Gedankengängen von Benioff und Weiss keine Rolle spielten.

Cersei Lannister ist die Böseste von Allen

Vielleicht haben die Macher, die nun ihre GoT-Zelte abbrechen und fortan für Disney eine neue "Star Wars"-Filmreihe entwickeln, Aufbauarbeit für die kommenden Ableger-Serien geleistet. Gut denkbar, dass die Vorgeschichte von Jane Goldman die Legende des Nachtkönigs zufriedenstellend erklärt und im Detail ausleuchtet, wie die Kinder des Waldes ihn erzeugten und welche Mission ihm auferlegt wurde. Beides wird nur angedeutet, insgesamt bleibt die Figur blass. Die "Schlacht der Bastarde" lebte von der Dualität zwischen Ramsay Bolton und Jon Schnee, der böse Gegenspieler war damals ein vielschichtiger, gewissenhaft erzählter Charakter. Als der Nachtkönig mit seiner Entourage in den Götterhain von Winterfell eintritt, mag mancher Zuschauer vielleicht an einen Proll-Rapper und seine Gangsterkollegen gedacht haben, aber nicht an einen facettenreichen Gegner.

Für "Game of Thrones"-Zuschauer, die die Serie wegen ihrer Interpretationsspielräume liebten, die die rätselhaften Fantasyelemente am meisten zu schätzen wussten, dürfte der eiskalte Schlussstrich unter den Figurenstrang des frostigen Anführers für Ernüchterung sorgen. Nun hat die Serie wieder Zeit für Politdrama, kluge Schachzüge und Intrigen von Cersei Lannister. Letztere ist die eigentliche Antagonistin, etwas anderes bleibt den Machern nicht mehr übrig. Die Regentin aus Königsmund wurde seit Staffel 1 aufgebaut. Cerseis Stärken und Schwächen sind bestens bekannt, die traumatischen Tode ihrer Kinder glaubwürdige Schicksalsschläge, die sie zu dem Monster haben werden lassen, welches nun in den letzten drei Folgen einen Spannungsabfall der Serie verhindern muss.

Ob für Cersei und ihre Schlachtpläne genauso viel Budget ausgegeben wurde, wie für den Nachtkönig und seinen Krieg gegen die Menschen darf allerdings bezweifelt werden. Nur eines dürfte bei hadernden Zuschauer einen Hoffnungsschimmer hinterlassen: Dunkler als in Episode 70 der "Game of Thrones"-Geschichte wird es wohl nicht mehr. Was bei vielen Fans für Unmut sorgte, weil sie kaum etwas auf ihren Fernsehern und Bildschirmen erkennen konnten, ließ das US-Magazin Vulture ein hartes Urteil über die Folge fällen: "‘Die lange Nacht‘ fühlte sich an wie eine der teuersten verpassten Gelegenheiten in der Geschichte des Fernsehens."

Frei nach dem Motto: Früher galt GoT als Parabeispiel für Grausamkeit und Finsternis, nun ist es nur noch die Ausleuchtung der Serie, die für dunkle Momente sorgt. Manch Leser der Bücher und gleichzeitiger Fan der TV-Adaption unkte bereits zu Beginn der siebten Staffel, dass mit dem Wegfall der Buchvorlage von George R. R. Martin das gewisse Etwas fehlen wird. Ganz so weit würden wir nicht gehen. Denn: Die letzte Schlacht ist noch nicht verloren.

Ausführliche Podcast-Kritik zur dritten Episode