Der Horror hautnah
Muss das sein?
![](https://a2.tvspielfilm.de/imedia/7974/9547974,iBBz62s44maoVrRnc_WHf2DwyLpm9no+JpNnKHlBVoHu4ZxywQYKDjAn46h98TGTGk8AJVyP+p_g_Uc+uL278g==.jpg)
Der Verzicht auf einen einzigen Schnitt ist ein inszenatorischer Coup, den in jüngerer Vergangenheit zum Beispiel Sebastian Schipper und sein Kameramann Sturla Brandth Grøvlen bei "Victoria" effektiv für sich genutzt haben und auch bei "Utøya 22. Juli" sorgt der Kniff für eine nahezu ungefilterte Direktheit und einen kaum zu übertreffenden Grad an Immersion. Aber "Victoria" ist "nur" ein rein fiktionaler Film, während Poppes Film offensichtlich den Versuch der realitätsgetreuen Nachbildung einer immensen Tragödie unternimmt. Da stellt sich unweigerlich die Frage, ob das unbedingt sein muss? Ist es notwendig, dem Sterben junger Menschen in Echtzeit beizuwohnen?
Direkt nach der Pressevorführung bei der Berlinale 2018 mischten sich in den Applaus auch nicht zu überhörende Buhrufe und auch im Anschluss zogen sich die geteilten Reaktionen durch die Medien. Kritische Stimmen werfen dem Film und Poppe Anmaßung und Gedankenlosigkeit vor, allzu fahrlässig mit dem Martyrium der Opfer umgegangen zu sein. Eine Haltung würde fehlen und stattdessen werde das Massaker für genretypische Konventionen missbraucht, so der Tenor. In Gesprächen war auch zu vernehmen, dass es ja vielleicht auch ein wenig zu früh für solch einen Film sein könnte - sieben Jahre seien nun doch keine besonders lange Zeit, wenn man die Folgen, das Trauma berücksichtigt.
Das Kino zeigt alles
2015 zum Beispiel gewann "Son of Saul" von László Nemes den Oscar für den Besten fremdsprachigen Film. Das Holocaust-Drama wurde zwar konventioneller gedreht, die Inszenierung entfaltete aber eine ähnlich unmittelbare und auch stark von der subjektiven Sicht der Hauptfigur geprägte Wirkung: Mehrfach und für längere Sequenzen ist die Kamera ganz nah an Saul (Géza Röhrig) dran, wie er in den Gaskammern des Konzentrationslagers die Körper der anderen ermordeten Juden wegschafft. Die beklemmende, alles in sich verschlingende Tonspur, die Berge aus Leichen im Bild - der Horror der Shoah wurde ungeschönt zum Leben erweckt und damals fand man sich auch als Zuschauer genauso im Schrecken des Nationalsozialismus‘ wieder wie jetzt auf der Insel Utøya während des Anschlags.
Mag sein, dass die lange Plansequenz in Poppes Film zur Folge hat, dass die Figuren vergleichsweise weniger komplex ausgearbeitet sind und sich dadurch auch mehr dramaturgische Zugeständnisse ergeben, als manchen lieb ist. Der Schrecken und der Schock aber, die kommen in beiden Filmen wirkungsvoll zur Geltung. Und schließlich gebraucht es oftmals nicht etwa eines langen, intellektuell geführten Diskurses, um erst dann die nächste Debatte lostreten zu können. Man braucht den allseits bekannten Denkanstoß - und "Utøya 22. Juli" ist ein heftiger Schlag ins Gesicht, der die Erinnerungen an das Ereignis mit voller Wucht ins Bewusstsein zurückholt. Dass nun auch über Sinn und Unsinn solcher Filmprojekte diskutiert wird, ist eher ein zusätzlicher Effekt, der aber hoffentlich nicht das Publikum vom Kernthema ablenken wird.
"Besonders wertvoll"
Zu seinem Glück sind nicht alle Stimmen zum Drama negativ: US-Kritiker zeigten sich im Durchschnitt sehr angetan und auch wir von TV SPIELFILM geben einen Daumen nach oben. Ab dem heutigen 20. September 2018 ist "Utoya 22. Juli" in deutschen Kinos zu sehen - eingestuft von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit dem Prädikat "besonders wertvoll".
![](https://a2.tvspielfilm.de/imedia/5436/9515436,lLUHH41rIxo+IEGXxnVRYH95RmgPM55M2WcAhnrggZWtE4GOLFfmadCNBwc2kvHPbjI5kmENPeKPzwsGs5i+Rw==.jpg)