500 Jugendliche wurden am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya von dem schwer bewaffneten Rechtsextremisten Anders Breivik überfallen, der zuvor schon eine Bombe in der Innenstadt Oslos zündete. 77 Menschen starben an dem Tag, 69 alleine beim Sommercamp der jungen Menschen. Die grausame Tat erschütterte die Welt und nun können Kinogänger sie aus der Sicht der Opfer im Film "Utøya 22. Juli" minutiös nacherleben - in einer einzigen Einstellung ohne Schnitt.

Der Horror hautnah

Es ist ein beklemmendes und höchst intensives Erlebnis, das Regisseur Erik Poppe auf die Leinwand gebracht hat. Auf Schritt und Tritt begleitet man die junge Kaya (ganz toll: Andrea Berntzen) auf ihrem Weg über den Schauplatz. Zunächst noch ist alles im Lot, doch dann sind die ersten Schüsse zu hören und sie kommen immer näher - der Horror nimmt seinen Lauf. Voller Panik flüchten sich die Kinder und Teenager in den Wald, verstecken sich. Unentwegt ist die Kamera dabei und mit ihr der Zuschauer, der mit den Opfern diese entfesselte Hölle auf Erden durchstehen muss, ohne Aussicht auf einen einfachen Weg raus.

Muss das sein?

Der Verzicht auf einen einzigen Schnitt ist ein inszenatorischer Coup, den in jüngerer Vergangenheit zum Beispiel Sebastian Schipper und sein Kameramann Sturla Brandth Grøvlen bei "Victoria" effektiv für sich genutzt haben und auch bei "Utøya 22. Juli" sorgt der Kniff für eine nahezu ungefilterte Direktheit und einen kaum zu übertreffenden Grad an Immersion. Aber "Victoria" ist "nur" ein rein fiktionaler Film, während Poppes Film offensichtlich den Versuch der realitätsgetreuen Nachbildung einer immensen Tragödie unternimmt. Da stellt sich unweigerlich die Frage, ob das unbedingt sein muss? Ist es notwendig, dem Sterben junger Menschen in Echtzeit beizuwohnen?

Direkt nach der Pressevorführung bei der Berlinale 2018 mischten sich in den Applaus auch nicht zu überhörende Buhrufe und auch im Anschluss zogen sich die geteilten Reaktionen durch die Medien. Kritische Stimmen werfen dem Film und Poppe Anmaßung und Gedankenlosigkeit vor, allzu fahrlässig mit dem Martyrium der Opfer umgegangen zu sein. Eine Haltung würde fehlen und stattdessen werde das Massaker für genretypische Konventionen missbraucht, so der Tenor. In Gesprächen war auch zu vernehmen, dass es ja vielleicht auch ein wenig zu früh für solch einen Film sein könnte - sieben Jahre seien nun doch keine besonders lange Zeit, wenn man die Folgen, das Trauma berücksichtigt.

Das Kino zeigt alles

Es schien, so der persönliche Eindruck, als wären eine ganze Menge empörter Zeigefinger im Affekt in die Höhe geschossen und seitdem in dieser Haltung verharrt. Zur Genüge haben sich nicht wenige an der vermeintlichen Geschmacklosigkeit abgearbeitet - aber waren denn Filme über tragische Ereignisse der Menschheitsgeschichte nicht auch immer dann besonders gut, wenn kein Blatt vor die Linse genommen wurde? Wenn das Grauen so direkt auf den Zuschauer einprasselte, wie es nur ging?

2015 zum Beispiel gewann "Son of Saul" von László Nemes den Oscar für den Besten fremdsprachigen Film. Das Holocaust-Drama wurde zwar konventioneller gedreht, die Inszenierung entfaltete aber eine ähnlich unmittelbare und auch stark von der subjektiven Sicht der Hauptfigur geprägte Wirkung: Mehrfach und für längere Sequenzen ist die Kamera ganz nah an Saul (Géza Röhrig) dran, wie er in den Gaskammern des Konzentrationslagers die Körper der anderen ermordeten Juden wegschafft. Die beklemmende, alles in sich verschlingende Tonspur, die Berge aus Leichen im Bild - der Horror der Shoah wurde ungeschönt zum Leben erweckt und damals fand man sich auch als Zuschauer genauso im Schrecken des Nationalsozialismus‘ wieder wie jetzt auf der Insel Utøya während des Anschlags.

Mag sein, dass die lange Plansequenz in Poppes Film zur Folge hat, dass die Figuren vergleichsweise weniger komplex ausgearbeitet sind und sich dadurch auch mehr dramaturgische Zugeständnisse ergeben, als manchen lieb ist. Der Schrecken und der Schock aber, die kommen in beiden Filmen wirkungsvoll zur Geltung. Und schließlich gebraucht es oftmals nicht etwa eines langen, intellektuell geführten Diskurses, um erst dann die nächste Debatte lostreten zu können. Man braucht den allseits bekannten Denkanstoß - und "Utøya 22. Juli" ist ein heftiger Schlag ins Gesicht, der die Erinnerungen an das Ereignis mit voller Wucht ins Bewusstsein zurückholt. Dass nun auch über Sinn und Unsinn solcher Filmprojekte diskutiert wird, ist eher ein zusätzlicher Effekt, der aber hoffentlich nicht das Publikum vom Kernthema ablenken wird.

"Besonders wertvoll"

Bei der Berlinale-Pressekonferenz zu seinem Film betonte Erik Poppe, dass er sich ausgiebig mit den Geschehnissen vom 22. Juli 2011 beschäftigt hat und, viel wichtiger, viel Zeit mit den Überlebenden wie Hinterbliebenen verbracht hat. Einige von ihnen waren auch in Berlin zugegen und zeigten ihre Unterstützung für den Film.

Zu seinem Glück sind nicht alle Stimmen zum Drama negativ: US-Kritiker zeigten sich im Durchschnitt sehr angetan und auch wir von TV SPIELFILM geben einen Daumen nach oben. Ab dem heutigen 20. September 2018 ist "Utoya 22. Juli" in deutschen Kinos zu sehen - eingestuft von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit dem Prädikat "besonders wertvoll".