Die australische Regisseurin und Drehbuchautorin Jennifer Kent wurde 2014 durch ihr Regiedebüt schlagartig einem speziellen Publikum bekannt: Ihr Schauermärchen "Der Babadook" mauserte sich nahezu über Nacht zum modernen Kultfilm für Horrorfans. Doch von ihrem zweiten Film hat man weniger viel mitbekommen, dabei ist er seit 2020 in Deutschland auf DVD und Blu-ray veröffentlicht worden und mittlerweile auch bei Amazon Prime Video zu sehen: "The Nightingale – Schrei nach Rache" heißt er.
Das Wort "Rache" im (deutschen) Titel, die FSK 18 auf dem Cover – da freuen sich die Fans brutaler filmischer Rachetrips. Und sie bekommen genau einen solchen von Jennifer Kent geboten, aber dann auch wieder irgendwie nicht. Was das heißen soll? "The Nightingale" unterwandert die Erwartungen und hat mehr zu bieten als nur eine Frau, die es nach Rache dürstet.
Gewalt erzeugt Gegengewalt: Der Plot von "The Nightingale"
Vorerst eine Warnung: "The Nightingale" ist ein harter Film, in dem es u.a. um sexuelle Gewalt geht. Eine Inhaltsangabe sowie eine Besprechung des Films können nicht erfolgen, ohne dieses Thema anzuschneiden.
Tasmanien im Jahr 1825: Die Irin Clare (Aisling Franciosi) ist eine verurteilte Straftäterin und wurde daher in die Strafanstalt in der britischen Kolonie gebracht. Sie hofft, dass der sadistische Leutnant Hawkins (Sam Claflin) sie eines Tages in die Freiheit entlassen wird, doch der Mann sieht Frauen nicht als Menschen an, sondern nur als seinen Besitz. Als Clares Mann Aidan (Michael Sheasby) sich deshalb mit dem gewalttätigen Aufseher anlegt, tötet Hawkins ihn, lässt Clares neugeborenes Kind ermorden und vergewaltigt die Gefangene.
Am nächsten Tag verlassen Hawkins und seine Gefolgsleute die Siedlung. Clare gelingt daraufhin die Flucht. Im tasmanischen Urwald begegnet sie dem indigenen Billy (Baykali Ganambarr), der sie unter seine Fittiche nimmt. Angetrieben wird Clare jetzt nur noch von einem Gedanken. Sie will grausame Rache nehmen.
Nach "Der Babadook": Ein neues Genre für Jennifer Kent
Es gibt ein Genre, das in der englischen Sprache als "Rape & Revenge" bezeichnet wird, zu deutsch: "Vergewaltigung & Rache". Damals waren es meist Männer, die als Väter, Brüder oder Ehegatten ihre missbrauchten (und ermordeten) Frauen rächen wollten. Bekannte Filme dieser Art sind das Meisterwerk "Die Jungfrauenquelle", der Actionkracher "Ein Mann sieht rot" oder der Western "Der letzte Zug von Gun Hill". Heute hat sich das Genre verändert: Meist überleben die Frauen jetzt die Schandtaten und dürfen sich selbst an den Tätern rächen.
"The Nightingale" scheint zu Beginn genauso ein Film zu sein: Die anfänglichen Szenen sind dermaßen erschütternd, widerlich und beklemmend. Jennifer Kent spielt mit allen Urängsten von Frauen: Clare ist unfrei, wird körperlich, physisch und sexuell misshandelt, verliert ihren Mann und ihr Baby und wird dann auch noch in ihrem Leid von niemandem ernstgenommen. Sie nimmt sich eine Flinte, ein Pferd und will Blut sehen. Wer könnte es ihr verübeln?
Brutal, aber auch: Großartig und zeitgemäß
Doch "The Nightingale" zeigt von nun an keine Frau, die mit der Hilfe eines Freundes einfach brutal einen Haufen mieser Männer niedermetzelt. Stattdessen sind diese 136 Minuten mit viel Ruhe und Nachdenklichkeit gefüllt. Kent lässt Clare und Billy, beide fantastisch gespielt, langsam zu Verbündeten werden, die der Hass auf die Engländer eint. Durch die Figur des Billy wird der historische "Black War" thematisiert: Die Ermordung der Aboriginies durch die britischen Kolonialisten. In einer Szene bricht Billy gar in Tränen aus, als ihn ein weißer Siedler an den Tisch einlädt und er damit erstmals im Film wie ein Mensch behandelt wird. Er weint jedoch nicht nur aus Dankbarkeit, sondern fragt sich: Wie kann ein Mann, der ihm sein Land gestohlen hat, nur glauben, menschlich und freundlich zu handeln sei bereits ausreichend?
Großartig legt Kent so den Finger in viele aktuell klaffenden Wunden: "The Nightingale" ist eine Aufarbeitung der Kolonialzeit, aber auch eine Anklage an das Patriarchat, an Gesellschaften, die beim Missbrauch an Frauen einfach wegsehen, ihn gar normalisieren. Auch die Gewalt, die Clare schließlich auf ihrem Rachefeldzug ausübt, ist zwar blutig, wird aber nicht verherrlicht. Selbstjustiz mag menschlich verständlich sein, doch Clare versteht gemeinsam mit dem Publikum, dass ihr Rache weder ihre geliebte Familie zurückgeben noch ihren Missbrauch ungeschehen machen kann.
Muss es solche Filme geben? "The Nightingale" beweist: Ja!
Fans von "Der Babadook" sollten wissen, dass es bis auf einige surreale Traumszenen, in denen Geister und sogar Zombies eine Rolle spielen, nur wenige Horrorelemente gibt. "The Nightingale" hat andere Stärken: Großartige Schauspieler, phänomenale Landschaftsaufnahmen und ein Drehbuch, das wichtige Themen anspricht – selbst wenn es inbesondere bei der Darstellung der Naturverbundenheit der tasmanischen Ureinwohner an der ein oder anderen Stelle vielleicht mal etwas zu arg kitschig wird.
Ansehen sollte man sich "The Nightingale" bei Amazon Prime Video dennoch unbedingt, sofern man die gezeigten Themen aushält. Manche Kritiker fragten sich bei der Veröffentlichung: Muss man diese sexualisierte Gewalt so direkt zeigen? Muss man das Trauma dieser Protagonistin so bildhaft machen? Wie wichtig solche Filme und ihre Botschaft sind, bewies jedenfalls die Weltpremiere von "The Nightingale" bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2018. In dem Jahr war es der einzige Film von einer Frau im Wettbewerb – und als der Name Jennifer Kent im Abspann auf der Leinwand erschien, brüllte ein Mann im Publikum wüste und sexistische Beschimpfungen. Wohl ein Fall von: Getroffene Hunde bellen.