In den 2000ern dominierte ein spezifischer Stil das Actionkino, der durch den Mega-Erfolg von "Die Bourne Verschwörung" ausgelöst wurde: Es wurde übermäßig schnell und oft geschnitten, die Kamera war meist eine Handkamera und wackelte dementsprechend teils gehörig. Actionszenen sahen dokumentarisch aus, als laufe der Kameramann neben den Helden mit. Die Wirkung: Action wirkte als Durcheinander, Gefahren und Gefährlichkeit übertrugen sich auf den Zuschauer, die Szenen lösten Nervosität aus. Filme wie "Batman Begins", "96 Hours", "Ein Quantum Trost", "Die Tribute von Panem" oder "Colombiana" orientierten sich offensichtlich an diesem Look.

Erst genau zehn Jahre später, durch den Überraschungserfolg "John Wick", kehrte ein anderer Actionstil ein: Jetzt wurden rasant schnell choreographierte Kämpfe und Schießereien in langen, ruhigen Einstellungen gezeigt, so behielt das Publikum den Überblick und konnte die Kampfkunst der Darsteller und des Stuntpersonals bewundern. Was viele nicht wissen: Schon drei Jahre vor "John Wick" gab es einen Actionfilm, der in genau diesem Stil inszeniert wurde – und oft sogar noch beeindruckendere Action präsentiert. Leider ging er damals krachend unter und ist jetzt schon nach nur etwas über 10 Jahren weitgehend vergessen. Wer sich dennoch für den starbesetzten Agentinnenthriller "Haywire" interessiert, kann ihn derzeit bei Amazon Prime Video streamen.

"Haywire" zeigt sensationelle Action mit komplexer Handlung

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Mallory Kane (Gina Carano) hat kein Problem, sich die Hände schmutzig zu machen …

Der Plot von "Haywire" ist sehr kompliziert und da der Film nur kurze 92 Minuten dauert, sollte man vorab nicht zu viel verraten. Also nur das Wichtigste: Die Agentin Mallory Kane (Gina Carano) arbeitet für keinen staatlichen Geheimdienst, sondern für den privaten Dienstleister Kenneth (Ewan McGregor), mit dem sie einst eine Beziehung hatte. Bei einem Einsatz in Barcelona arbeitet sie mit dem brutal agierenden Aaron (Channing Tatum) zusammen, und kommt ihm dabei näher. Doch kaum ist der Auftrag ausgeführt, machen verschiedene Personen plötzlich Jagd auf sie, darunter ihr Kollege Paul (Michael Fassbender), der CIA-Befehlsgeber Coblenz (Michael Douglas) sowie der mysteriöse Strippenzieher Rodrigo (Antonio Banderas). Auf der Flucht versucht Mallory, ihre Verfolger abzuschütteln und herauszufinden, warum ihr aus heiterem Himmel alle an den Kragen wollen.

Ein großes Staraufgebot versammelt sich in "Haywire" also, doch sind sie alle nur Staffage. Die Hauptattraktion ist Gina Carano, eine erfahrene Mixed-Martial-Arts-Kämpferin, die im Film massig Gelegenheit bekommt, ihre beeindruckenden Kampfsportkünste zu präsentieren. Ihre beste Kampfszene, ein sensationelles Handgemenge mit Michael Fassbender, wird zu einer Art Action-Ballett, zu einer Sinfonie knackender Knochen. Und ihre enorme Fitness macht auch die überzogeneren Szenen glaubwürdig, etwa eine wirklich unfassbar gut inszenierte Verfolgungsjagd über den Dächern von Dublin. "Haywire" ist hypermodernes Bewegungskino, denkt rein in Action-Impulsen. Für Gina Carano war der Film trotz ausbleibenden Erfolgs der Durchbruch, brachte ihr Rollen im Blockbuster "Fast & Furious 6", dem Superheldenspektakel "Deadpool" sowie der gefeierten "Star Wars"-Serie "The Mandalorian" – ehe sie sich 2020 durch kontroverse Posts bei Twitter ins Abseits stellte.

Hinter "Haywire" steht ein Meister des Kinos

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Eben noch war Aaron (Channing Tatum) mit Mallory im Bett, da macht er plötzlich Jagd auf sie.

"Haywire" ist unter anderem so gut, weil hinter der Kamera ein echter Künstler saß: Verantwortlich für den Geheimtipp ist Regisseur Steven Soderbergh, den man als Regie-Chamäleon bezeichnen muss. Vom Beziehungsdrama "Sex, Lügen und Video" über die Drogenkartellmilieustudie "Traffic – Macht des Kartells" und den schockierend-realistischen Seuchenthriller "Contagion" bis zu den locker-luftigen Gaunerkomödien der "Oceans Eleven"-Trilogie hat Soderbergh schon so gut wie jedes Thema und jedes Genre beackert. Auch im Action- und Agentenkino erweist er sich als Meister seines Fachs, so gelingen ihm Spannungsmomente mit Herzrasen-Garantie und inmitten der vielen harten Kämpfe behält er immer einen Blick für die Figuren. Soderberghs Filme haben oberflächlich wenig Gemeinsamkeiten, doch sie alle eint, dass sie oft einfach ein bisschen besser und ausgetüftelter als die Konkurrenz sind.

2011 wollte man diese konzentrierten, fast nüchtern gefilmten Hochgeschwindigkeitschoreographien noch nicht sehen – und übersah deshalb, was für ein wunderbar intelligenter Film in "Haywire" steckte. Erst drei Jahre später konnte "John Wick" mit diesem Stil ein Publikum für sich begeistern. Und es würde einen nicht überraschen, wenn die "John Wick"-Macher sich bei "Haywire" so einiges abgeguckt hätten …