Ich liebe Kino. Für mich ist es immer noch der beste Ort, um einen neuen Film das erste Mal in all seiner audiovisuellen wie erzählerischen Pracht zu erfahren. Die Corona-Pandemie aber hinderte mich wie viele andere auch, den ritualisierten Gang ins Filmtheater auf mich zu nehmen. Stattdessen kauerte ich viel öfter vor dem Fernseher, streamte ein wenig, ärgerte mich über Verbindungsfehler oder schmiss doch lieber die Playstation an. Streaming ist der große Egalmacher, der aus einem Kunstwerk eine Fußnote macht. Der Unterschied zwischen Kino und TV ist für meine Filmerfahrung wie der zwischen einer Galerie und der Google-Bildersuche, würde ich ein Gemälde betrachten wollen. Der Raum zählt. Die Atmosphäre, in der Respekt, Ehrfurcht und das Zelebrieren der Kunstform mitschwingen und spürbar werden, zählt. Die Anstrengung, sich physisch zum Werk hinzubegeben und sich mental darauf einzustellen, zählt. Meine Hingabe zählt. Ihre auch. Aber nicht so daheim. Stattdessen: Algorithmen, die mich durchschauen wollen und die erdrückende Psychologie der ständig anwachsenden Watchlist. Spotify auf Shuffle, statt Album auf Vinyl.

Selbstverständlich fieberte ich der Wiedereröffnung der Kinos entgegen, um kleine Perlen wie "Ich bin dein Mensch" von Maria Schrader ebenso zu sehen wie großes Krawall- oder Gruselkino wie "Godzilla vs. Kong" oder "Conjuring 3". Auch "Black Widow" steht auf meiner Liste. Doch den neuen Blockbuster werden wohl viele nicht auf der großen Leinwand sehen, da mehrere Kinoketten ihn nicht ins Programm aufgenommen haben. Wirtschaftlich würde sich das nicht rechnen, da sonst hohe Gebühren anfielen und durch den zeitgleichen Streamingstart die Besuchererwartungen deutlich geringer wären. Als Verfechter des Kinos dachte ich zunächst, dass das die zwar schmerzliche, aber doch richtige Entscheidung gewesen ist. "So nicht, Disney!", dachte ich reflexartig und in einem Wahn von Kino-Dogmatismus. 

Black Widow: Erfolg bei Disney+

Aber nicht so schnell. Wie unter anderem das Branchenmagazin Variety berichtet, hat Disney nun konkrete Zahlen zu "Black Widow" beim hauseigenen Streamingdienst Disney+ veröffentlicht, wo der Film aktuell für 21,99 Euro digital erhältlich ist. Demzufolge hat der neueste Eintrag ins MCU mehr als 60 Millionen US-Dollar allein durchs Streaming eingenommen – 60 Millionen, die das Studio nicht mit den Kinos teilen muss. Eine nicht zu verachtende Summe, die auch einen nicht zu unterschätzenden Anteil am weltweiten Gesamtergebnis hat: An den US-Kinos wurden am ersten Wochenende 80 Millionen Dollar umgesetzt, international kamen 78 Millionen aus bislang 46 Nationen hinzu. Weitere Märkte werden folgen, unter anderem der so wichtige in China. Aber bis dahin werden sicher auch weiterhin mehr Haushalte den Film streamen.

In Pandemiezeiten mögen das zwar rekordverdächtige Zahlen sein. Aber ohne Corona würde ein Marvel-Film allein in den USA so viel an den Kinos einspielen wie jetzt weltweit. Niemand darf vergessen, dass Erfolge gerade auf einem deutlich niedrigeren Niveau gemessen werden als je zuvor. Zudem soll "Black Widow" geschätzte 200 Millionen an Produktionskosten verschlungen haben, ganz zu schweigen von den sicher enormen Ausgaben für die Vermarktung, die sich durch die coronabedingten Verschiebungen über die vielen Monate nur vermehrt haben dürften. Cate Shortlands Werk ist damit, man mag es kaum glauben, noch weit davon entfernt, ein rentabler Hit zu sein. Gerade jetzt zählt jeder umgesetzte Dollar, ganz egal, woher er kommt.

"Black Widow" und das Sicherheitsnetz Disney+

Dass das Kino allein den gewünschten Erfolg nicht erbringen kann, liegt auf der Hand: In Deutschland mögen die Säle zwar wieder offen sein, doch werden sie nur mit geringerer Auslastungskapazität betrieben. Es sind noch immer viele Hygieneregeln in Kraft, es gilt Maskenpflicht vielerorts per se auch am Platz und man muss geimpft, genesen oder zumindest aktuell negativ getestet sein. Zudem dürften generell noch viele Menschen zögerlich sein, was einen Kinobesuch angeht, die übrigen Bedingungen erhöhen die Hürde noch mehr. In anderen Ländern herrschen wiederum noch strengere Auflagen, da dort das Virus stärker grassiert. Ob der Verzicht auf die zeitgleiche Auswertung bei Disney+ so viel mehr Leute ins Kino gelockt hätte, um identische oder vielleicht sogar bessere Zahlen zu schreiben, ist völlig unklar.

Das digitale Angebot ist indes gar nicht so schlecht, legt man denn selbst weniger Wert aufs Kino an sich (welch Frevel). Die rund 22 Euro mögen für einen Single-Haushalt zunächst viel erscheinen. Aber dafür kann man sich den Film so oft anschauen, wie man will. Kommen Lebenspartner oder Familien ins Spiel, wird der VIP-Zugang bei Disney+ geradezu erschwinglich. Wer also kann und will, soll also auch ruhig "Black Widow" streamen.

Blöd fürs Kino - aber gut für Filme

Und muss es eigentlich auch. Denn so sehr ich das Kino im Herzen trage – ich liebe nun mal auch Filme an sich. Und ich habe viel Spaß damit, mir hin und wieder laute, effektreiche Spektakel anzuschauen. Ich schaue namhaften Stars gerne bei der Arbeit zu und ergötze mich mit Freuden nicht nur an anspruchsvollen Beiträgen der europäischen Arthouse-Szene, sondern nun mal auch an cineastischen Energiebündeln wie "Mad Max: Fury Road". Die kosten aber leider eine ganze Menge Geld, doch ich möchte trotzdem, dass Studios auch in Zukunft in der Lage sind, sie zu produzieren.

Auch wenn ich mir Sorgen um die Zukunft des Kinos mache und sie noch möglichst oft besuchen möchte, muss ich doch widerwillig gestehen, dass mich die 60 Millionen Dollar Umsatz bei Disney+ für "Black Widow" überrascht haben. Ich wünschte, die Summe wäre bei weitem nicht so hoch und den höheren Anteil an den Gesamteinnahmen hat immer noch das Kino. Aber Disney+ ist noch nicht jedem Land verfügbar, in dem der Film im Lichtspielhaus herausgekommen ist – die digitalen Einnahmen könnten theoretisch also noch sehr viel höher sein. Zudem steht starke Konkurrenz in Form von "Fast & Furious 9" für den deutschen Kinomarkt bereits in den Startlöchern. Das exklusive Auswertungsfenster im Kino mag für "Black Widow" nicht vorhanden gewesen sein, doch durchs Streaming erhält die schlagkräftige Heldin ein umso größeres zum Überleben. Immerhin, die hiesige Kinobranche ist sehr glücklich über "Black Widow", wie Blickpunkt:Film schreibt. Am ersten Wochenende wurden so viele Tickets wie seit "Tenet" im Sommer 2020 nicht mehr für einen Neustart verkauft. Es hätten mehr sein können.

Ich kann somit nur hoffen, dass "Black Widow" in absehbarer Zeit tatsächlich Gewinn einbringen wird. Nicht nur für Disney. Sondern auch für Filme. Und damit fürs Kino. Meinetwegen dann halt auch durchs Streaming. Ich werde meinen Beitrag leisten und mein Geld für "Black Widow" ausgeben und hoffe, dass mir das viele gleichtun werden. Ganz egal wo und wie.

Dieser Inhalt ist zuerst bei CHIP.de erschienen.