Die zweite Staffel "Babylon Berlin" feierte im Ersten ihren Auftakt mit den Folgen 9 und 10. Es ist, so viel darf man verraten, ein weiterhin spektakuläres TV-Ereignis und übertrifft die 1. Staffel dramaturgisch noch einmal. Mit gut vier Millionen Zuschauern war der Start der neuen Folgen im Ersten ein Erfolg, doch noch größer ist die Freude beim öffentlich-rechtlichen Sender über die non-lineare Nutzung des Angebots in der ARD-Mediathek.

Volker Herres, Programmdirektor Erstes Deutsches Fernsehen, zog nach der 1. Staffel "Babylon Berlin" kürzlich Bilanz: "Um den Sehgewohnheiten von Serienfans entgegenzukommen, haben wir uns dafür entschieden, BABYLON BERLIN vorab und zeitunabhängig anzubieten. Es spricht für die große Faszination der Serie, dass dieses Angebot so außergewöhnlich gut genutzt wird. Fast fünf Millionen Videoabrufe und im Schnitt sechs Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer pro Folge bei der linearen Ausstrahlung sind eine hervorragende Halbzeitbilanz."

Nur noch drei Wochen dann ist die teuerste deutsche Serie raus aus dem Free-TV. Zeit, eine der Hauptdarstellerinnen über die Faszination von "Babylon Berlin" sprechen zu lassen. Liv Lisa Fries erzählt uns, wie sie die Produktion erlebt hat.
Frühjahr 2015
Ich habe eine Einladung zum Casting erhalten, für eine Serie, von der schon seit einem halben Jahr gemunkelt wird. Inzwischen ist durchgesickert, um was es geht, das Berlin der Zwanziger, und wer dreht. Meine Neugier ist geweckt. Beim Casting bin ich allein mit der Casterin Simone Bär und einer Kamerafrau. Alles ist sehr gut vorbereitet und intensiv. Als ich das Studio verlasse, bin ich wie beflügelt. Ich fand ­Serie eigentlich nie so spannend. So etwas wie die "Sopranos" wird hier ja nicht gedreht. Bis jetzt...

Sommer 2015
Auf den Anruf habe ich lange gewartet: Hast du Lust... Und ob! In einer Drehpause (zum Kinofilm "Rakete Perelman") stehe ich auf einem Feld in der Uckermark und lerne den Text für das nächste "Babylon Berlin"-Casting. Ab nach Berlin! Dort erwarten mich die drei Regisseure und Volker Bruch, der die männliche Hauptrolle spielen soll. Wir haben nur eine Szene, aber die wird vier Stunden lang so gründlich geprobt, wie ich das selten erlebt habe. Vor allem ist es nicht einfach, allen drei Regisseuren gerecht zu werden. Es fühlt sich so an, als ob der eine sagt: lache!, der zweite: weine! und der dritte: vergiss, was die anderen beiden sagen, mach, was du willst! Mit Volker verstehe ich mich auf Anhieb. Wir sind beide sehr ernsthaft, aber können auch Abstand von der Arbeit nehmen und darüber lachen. Wir haben rasch eine Ebene ­gefunden, auf der wir beruflich und privat wunderbar miteinander auskommen. Tom, Henk und Achim sind Regisseure, die mein filmisches Verständnis ­geprägt haben: Tom mit "Lola rennt", Henk mit "Liegen lernen" und Achim mit "Was nützt die Liebe in Gedanken?", das waren in meiner Jugend für mich enorm wichtige Filme. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergeht. Tom sagt irgendwann, wir werden uns jetzt ja häufiger sehen, aber ich kann das noch gar nicht ernst nehmen. Der Hauptgrund, warum ich nicht durchdrehe, ist, dass ich mit Henk schon ­einmal ­gedreht habe, einen ­"Polizeiruf 110". Er ist in der ­ganzen Aufregung mein Anker, meine Vertrauensperson.

November 2015
Ich bin zum Abendessen bei ­einem Freund. Auf dem Handy erscheint Henks Nummer. Ich ­denke, na ja, den rufst du morgen zurück, ich will den Abend nicht durch ein Berufsgespräch zerstören. Der Freund sagt: Bist du verrückt? Den rufst du ­sofort zurück. Natürlich hat er recht. Henk sagt: Lisa, wir haben uns für dich entschieden, wir wollen diese große Reise gemeinsam mit dir machen. Ich kann es kaum glauben. So eine Chance bekommt man als Schauspielerin nicht allzu oft.

Dezember 2015
Mein Weihnachtsgeschenk ist in der Post: die 16 Drehbücher zu "Babylon Berlin". Allmählich wird mir klar, welche Dimensionen das Projekt annimmt. Es ist die größte und aufwendigste ­Serie, die je im deutschen Fernsehen gedreht wurde. Ich vertiefe mich in die Lektüre. Die Romanvorlage von Volker Kutscher lasse ich bewusst aus. Ich will mich auf die Charlotte in der ­Serie konzentrieren.

Das Jahr 2016

Januar 2016
Noch mal durchatmen, bevor es losgeht. Ich tanke Kräfte auf Kuba, genieße Sonne und Meer der Karibik. Und ich versuche, tiefer in die Figur einzudringen, die ich demnächst spielen werde. Was motiviert sie, was sind die Kräfte, die ihr Handeln bestimmen? Ich will Charlotte von der Innensohle des Fußes bis zur Kopfspitze verstehen. Mir fällt auf, wie robust und direkt Charlotte die Probleme angeht. Wir denken heute viel mehr über das Leben nach, sind Zweifler und Grübler. Dieses Maß an Selbst­reflexion kennt Charlotte nicht. Sie wischt vieles beiseite und sagt sich: Weiter geht's! Ihr bleibt nicht viel anderes übrig, weil sie Geld für ihre Familie und sich verdienen muss. Und doch ist das nicht alles. Es gibt tief in ihr einen Glutkern, der auf alles, was sie macht, ausstrahlt. Ihre unbedingte Suche nach Wahrheit, im Beruf wie im Privaten, hat ­einen Ursprung in ihrem Leben, zu dem es sich vorzutasten gilt.

Februar 2016
Ich bekomme Tanzunterricht. Auf dem Programm steht Charleston. Volker und ich sind von lauter Profis umgeben: 40 Berufstänzer, dazu eine ­Tanzlehrerin, die uns die Basics beibringt, eine Tanzchoreografin, die mit uns den individuellen Ausdruck übt, und eine Tanz­koordinatorin, die alles in ein Gesamtgefüge einbettet.

16. Mai 2016
Es geht los. Der erste Drehtag in der Mauerstraße, 200 Meter vom Brandenburger Tor. Ich stehe in der Wohnung Ritter, einem ­typischen Arme-Leute-Quartier der Zwanzigerjahre, das in eine Turnhalle hineingebaut wurde. Ich bin sprachlos. Und ergriffen. Das fühlt sich nicht wie eine ­Kulisse an. Das wirkt echt. Ein guter Start, denn wenn alles stimmt, die Möbel, die Stoffe, das ganze Ambiente, dann trägt mich das auch mit hinein in die Zeit und die Figur.

Juni 2016
Erster Drehtag im Studio Babelsberg in Potsdam in der Neuen Berliner Straße. Ameisen krabbeln auf den Wegen. Ein gutes Zeichen. Die Stadt lebt, sie ist mehr als Styropor und Holz und Leim. Ich bin überwältigt wie wohl alle, die in diesem Miniatur-Berlin drehen. Klopft man gegen eine Wand, klingt es hohl. Ansonsten sieht alles echt aus. Ich spüre, wie gern ich hier bin. Ich mag die Architektur, die ­Mode und das Design der ­Zwanziger. Dieses Berlin ist wie ein Resonanzkörper für meine Gefühle. Es bringt in mir etwas zum Schwingen.

Juli 2016
Manchmal gehe ich ganz in meiner Figur auf, aber es gibt immer wieder Momente, in denen ich mir darüber klar werde, dass mir manches an den Lebensumständen von Charlotte total fremd ist. In einer Szene faucht Godehard Giese sie an: Mädchen, haste gerade erst sprechen gelernt? Okay, er spielt ihren Vorgesetzten, und sie hält sich nicht immer an die Vorschriften, aber so eine Frechheit würde man sich heute als Frau nicht gefallen lassen. Charlotte gibt nach und verkrümelt sich. Das war damals die normale Reaktion für eine Frau, die in der Polizeihierarchie ganz unten steht. Umgekehrt ist es bei den Massenszenen. Wenn viele Komparsen über die Bürger­steige gehen, Autos fahren und alles nach Berlin 1929 aussieht, dann bin ich in einem Flow, dann vergesse ich für die Dauer des Takes die reale Welt und tauche in das Damals ein.

August 2016
Drei Wochen Urlaub. Zeit zum Abschalten und Nachdenken. Freunde erzählen mir, ich sei ­extrovertierter als sonst. Etwas von Charlotte hat offensichtlich auf mich abgefärbt. Hoffentlich das, was ich an ihr schätze: ihre Offen­heit, ihre Ehrlichkeit, ihre Beharrlichkeit. Viele der Charak­tere, die ich verkörpert habe, Spuren in mir hinterließen. Ich drehe, seit ich vierzehn bin. Da bleibt so etwas wohl nicht aus.

September 2016
Anstrengender Monat. Drei Tage verschärftes Tanztraining, das selbst die Profis erschöpft hat. Danach drehen wir in vier Tagen alle Szenen, die im Nachtclub ­Moka Efti spielen. Mir schmerzen Muskeln, von deren Existenz ich noch nichts wusste. Aber danach bin ich glücklich. Es geht auf das Ende des Drehs zu. Der Sommer macht eine Pause. Warum ausgerechnet jetzt? Ich muss für eine Szene ins Wasser, und es ist so kalt, als ob Eisnadeln die Haut piksen. Eigentlich sollte ich einen Neoprenanzug unter meiner Kleidung tragen. Aber bei der Probe sehe ich aus wie ein kleines Nilpferd, weil der Tauch­anzug die Klamotten so aufbläht. Ich gehe ungeschützt baden. In einem Zelt hat die Crew ein Becken mit ­heißem Wasser zum Aufwärmen aufgestellt. Wir haben die Hürde genommen. Und der letzte ­Drehtag ist nicht mehr fern. ­Weiter im Text...

Liv Lisa Fries im Porträt

Große Schauspieler umgibt ein Geheimnis. Liv Lisa Fries weiß ihres gut zu hüten. Was geht vor hinter dem kühl taxierenden Blick, den sie in vielen ihrer Rollen aufsetzt? Die Berlinerin, die am 31. Oktober 28 Jahre alt wird, hat 2009 im TV-Film Sie hat es verdient als scheinbar emotionslose Mörderin auf sich aufmerksam gemacht. Für Und morgen Mittag bin ich tot ­erhielt sie 2014 u. a. den Max Ophüls Preis als beste Nachwuchsschauspielerin. Serienfreunde kennen sie aus der Berlin-Spionage Serie Counterpart.