RTL II und ALG II: Eine brisante Mischung. Die einen hetzen auf Facebook gegen faule Hartzer und loben die tüchtigen Menschen, die sich für ein paar Euros abrackern aber trotzdem nicht "dem Staat zur Last" fallen wollen. Die anderen beklagen pauschal die angebliche Vorführung argloser Simpel, die nicht wissen, worauf sie sich eingelassen haben. Keine Sendungen polarisieren im deutschen Fernsehen derzeit so wie "Armes Deutschland", "Hartz und Herzlich" und andere Dokureihen, die sich schon den Spitznamen "Sozialpornos" eingefangen haben.

"Armes Deutschland" läuft bereits seit 2016, richtig beachtet und diskutiert wird das RTL II-Format aber erst seit 2018, interessanterweise just zu der Zeit, in der die SPD über eine Abschaffung des von der Partei 2005 eingeführten Arbeitslosengeld II (im Volksmund Hartz IV genannt) diskutiert. Und seitdem der Ableger "Armes Deutschland – Deine Kinder" startete. Kinder gehen eben immer.

Bisher bin ich beruflich darum herumgekommen, "Armes Deutschland" schauen zu müssen. Nach der breiten Diskussion und den menschenverachtenden Kommentaren auf Facebook wollte ich mir auch mal ein Bild machen und schaute zum Start der Wiederholung von "Armes Deutschland: Deine Kinder" mal rein.

Mein erster Eindruck: Ich bin positiv überrascht. Für RTL II-Verhältnisse kommt "Armes Deutschland" weniger knallig und reißerisch daher als gedacht. Überhaupt muss man den notorischen Schmuddelsender an dieser Stelle auch mal loben. In den letzten Monaten liefen hier Dokureihen wie die Kiezreportage "Reeperbahn privat", die sich von der Tonalität nicht groß von öffentlich-rechtlichen Sendungen unterscheiden. Anders als bei meinem Guilty Pleasure "Frauentausch" gibt es bei "AD: Deine Kinder" keine suggestive, im Sekundentakt wechselnde Musikbegleitung oder süffisante Untertitel.

Armes Deutschland: Die Kinder machen Mut

Die gängige Kritik, dass Empfänger von ALG II runtergeputzt werden, damit sich der Kleinbürger, der brav arbeitet und Steuern zahlt im Fernsehsessel moralisch überlegen fühlen kann, die stimmt natürlich tendenziell schon. Die Versuchsanordnung ist ähnlich wie bei "Frauentausch". Dem bösen Armen, der den Tag vor der Playstation verdaddelt und die Stütze verraucht, wird der gute Arme entgegengestellt. Der abends nach seinen drei Minijobs noch Flaschen sammeln geht um die Kinder durchzubringen.

Die meisten Zuschauer springen da auch gleich ein, ergehen sich in Beschimpfungen und Kastrationsfantasien gegenüber überforderten Eltern und schreiben Solidaritätsadressen an die ehrenhaften Flaschensammler. Doch man muss "Armes Deutschland" vor unreflektierten Zuschauern retten, genauso wie vor Kritikern, die reflexartig "Freakshow" schreien. Es gilt stattdessen, genau hinzuschauen und zwischen den Zeilen lesen.

Manchmal sprechen die Bilder eine klarere Sprache als die nach Betroffenheit heischenden Kommentare aus dem Off. Während bei der Begleitung einer 14-köpfigen Familie vom harten Alltag die Rede ist, sehen wir fröhliche Kinder. Man sieht die Solidarität zwischen den Geschwistern und wie die Eltern liebevoll die Kleinen wecken. Wenn ein Mädchen gefragt wird, ob sie jemals beim Friseur war (die Mutter schneidet selbst) und ein Junge nicht in die Schule gehen kann, weil er sein einziges Paar Schuhe nicht findet ist das keine Vorführung, sondern erst einmal berührend. Gerade die Kinder machen mit ihrer Stärke und Fröhlichkeit Mut.

Im Gegensatz zu ihren Eltern, die sich oft schon aufgegeben haben, zeigen sie das Armut kein Schicksal sein muss, man sich aber auch nicht dafür schämen muss, von staatlicher Unterstützung leben zu müssen und dass man trotz Hartz IV nicht immer nur schlecht drauf sein muss.

Wenn man der Produzentin glauben schenken darf meldeten sich die Teilnehmer freiwillig (wie auch sonst) und im besten Wissen und Gewissen. Sie wollen gesehen werden und wollen die Scham überwinden. "Sie wollen eine Stimme bekommen, um ihren Ängsten, aber auch ihrem Ärger Luft zu machen, damit ‚die da oben‘ mal hören, was ‚die da unten‘ bewegt", sagt Sylvia Fahrenkrog-Petersen im Gespräch mit TV Spielfilm. "Wir erzählen aus ihrem Leben aus ihrer Sicht und füllen die anonymen Zahlen aus der Zeitung plötzlich mit wahrem Leben und echten Schicksalen".

Tatsächlich deckt "Armes Deutschland" eine große Bandbreite ab. Von den prekär lebenden Selbstständigen, die aber aus Stolz niemals Stütze beantragen würden, bis zu den Eltern, die aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können und darunter leiden, ihren Kindern nichts bieten zu können. Aber natürlich verschweigt die Reihe nicht, dass es auch Menschen gibt, die durch Erziehung und soziale Umstände in eine Spirale geraten sind, aus der sie ohne fremde Hilfe nicht mehr rauskommen. Und dann gibt es noch die Extremfälle, die Arno Dübel-haften Schelmen, die dem Staat eins auswischen wollen. Sie sind bestimmt nicht repräsentativ für Hartz IV-Empfänger, auch wenn die Sendung das suggeriert. Aber auch scheinbar seriösere Dokus arbeiten mit einer solchen Einteilung in durchschnittliche Fälle und Ausschläge ins Extrem.

Im Off-Kommentar wird zögerlich, aber immerhin auf die sozialen und persönlichen Umstände von Armut hingewiesen und nicht einfach ein "selbst Schuld" vorausgesetzt. Um auf den Missstand der Armut in einem reichen Land wie Deutschland hinzuweisen ist "Armes Deutschland" auf jeden Fall effektiver als die X-te Talkrunde zum Thema. Und das Format ist auch produktiver und wichtiger als das so gelobte "Zuhause im Glück". Da kommt im feudalistischen Stil das Fernsehen und hilft gönnerhaft einer bedürftigen Familie in zu engen Wohnräumen aus der Patsche – und lässt die Menschen dann auf den Renovierungskosten durch die Steuer sitzen...