Seit 2016 begleitet RTL II bei "Armes Deutschland" Menschen am Rand der Gesellschaft, solche, die hart arbeiten und bei denen es trotzdem nicht zum Leben reicht, und solche, die mit gutem Gewissen keinen Finger rühren.
Das Format ist umstritten, es ginge nicht um Aufklärung, "sondern um jenen Voyeurismus, bei dem man ständig glaubt, ausschalten zu müssen, aber es dennoch nicht tut, weil es so angenehm leicht gruselige kribbelt. Je tiefer die Menschen im Dreck stecken desto besser für den Sender", so kritisierte etwa Focus online.

RTL II-Programmdirektor Tom Zwiessler sieht das anders. Im Interview mit dem Branchendienst quotenmeter erklärt er, man gäbe sich "große Mühe, die Menschen in ihrem Alltag zu zeigen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Das heißt: Unsere Teams begleiten sie und leben mit ihnen über eine lange Phase. Wir wollen mit den Reihen jenseits der Klischees unterwegs sein". Vom Erfolg war er selbst überrascht, "speziell bei den (...) 14- bis 29-Jährigen, wo wir schon mal auf über 20 Prozent kommen. Das Thema wurde im Fernsehen bisher kaum beleuchtet - das mag vielleicht ein Grund für den Erfolg sein. Mittlerweile haben das auch die anderen Sender erkannt".

Wie das Format entsteht, haben wir die Chefin der Produktionsfirma Good Times Fernsehproduktions GmbH, Sylvia Fahrenkrog-Petersen, gefragt.

Armes Deutschland hat kein Script

Good Times

Seit 1998 ist Sylvia Fahrenkrog-Petersen Geschäftsführerin und leitende Produzentin bei der von ihr gegründeten Good Times Fernsehproduktions-GmbH.

Frau Fahrenkrog-Petersen, "Armes Deutschland" ist ja für RTL II ein großes Erfolg. Doch als Sie die neuen Folgen auf Facebook angekündigt haben, waren die Zuschauerreaktionen alles andere als freundlich: "Das das Amt da nicht einschreitet.Wenn man so stinken faul ist.", "Kinder machen um dem jugendamt/Staat eins auszuwischen, ist echt unübertroffen.", "Es gibt keine Zwangsarbeit in Deutschland. Freut euch". Eingeschaltet wird aber trotzdem.

Würden Sie das auch machen, wenn es nicht aus beruflichen Gründen wäre?
Sylvia Fahrenkrog-Petersen: Ja, denn "Armes Deutschland" ist kontrovers. Die Geschichten, die wir erzählen reichen von Mitgefühl und Mitleid, bis zum absoluten Kopfschütteln. In jedem Fall sind es packende Momente, die viele Menschen zum Einschalten bewegen. Auch mich.

Was glauben Sie, wer schaut das und warum?
Wir gehen in "Armes Deutschland" der Frage nach "Lohnt sich Arbeiten in Deutschland?". Das Thema spricht nicht nur eine gewisse Zielgruppe an. Wie gerecht ist das Sozialsystem in Deutschland? Was kann, darf und muss Hartz IV leisten? Wie präsent ist Armut in deutschen Haushalten? Das alles sind Fragen, die wir stellen und die quer durch die Gesellschaft relevant sind. Ich denke, Betroffene suchen Antworten und finden eine gewisse Identifikation mit unseren Protagonisten. Andere wollen sicherlich einen Einblick in diese Lebenswelt bekommen, denn Armut begegnet uns auch im Alltag. Der Unterschied ist allerdings, dass "im echten Leben" die Tür der armen, noch arbeitenden Rentnerin meist geschlossen bleibt. Armes Deutschland öffnet sie.


Wie finden Sie die Mitwirkenden?

Die Protagonisten finden wir in ihrer täglichen Lebenswelt. Wir sind in den sozialschwächeren Regionen Deutschlands unterwegs und kommen dort mit den Menschen ins Gespräch. Das kann in der Plattenbausiedlung sein, bei Tafeln, usw.

Was bewegt die Menschen, sich bloßzustellen?
Oft wollen unsere Protagonisten einfach nur gehört werden. Meist sind sie allein mit ihren Problemen und Sorgen. Die Menschen, mit denen sie es teilen könnten, sind meist selbst betroffen. Sie wollen eine Stimme bekommen, um ihren Ängsten, aber auch ihrem Ärger Luft zu machen, damit "die da oben" mal hören, was "die da unten" bewegt.

Ist es schwerer, die "Schmarotzer" zu finden oder die, die sich abrackern?
Tatsächlich ist es so, dass wir schwieriger die hart arbeitenden Menschen finden. Hier ist die Schamgrenze oft höher. Wer möchte schon sagen, dass er arbeiten geht und trotzdem an der Armutsgrenze lebt.

Wie reagieren denn die Mitwirkenden nach der Ausstrahlung?
Wir sind mit unseren Protagonisten dauerhaft in Kontakt, auch nach den Dreharbeiten. Meist sind die Reaktionen positiv. Einige Protagonisten sind sogar dankbar dafür, dass sie endlich mal ihre Meinung in der Öffentlichkeit sagen durften, besonders, wenn sie dann noch auf positive Resonanz bei den Zuschauer stoßen.

Was sagen Sie zu den Vorwürfen, die Menschen würden vorgeführt, bloßgestellt?
Wir führen niemanden vor. Armes Deutschland hat kein Script. Es sind echte Menschen, die ihre persönliche Meinung äußern. Jedem ist bewusst, dass diese öffentlich wird. Wir klären sie auch darüber auf, womit sie im Extremfall rechnen müssen. Und trotzdem bleiben viele Leute dabei, denen solche Aussagen egal sind, sie wollen einfach ihre Meinung loswerden.

Apropos öffentlich, wie sind die Reaktionen der Zuschauer?
Besonders bei Fällen, wo Kinder involviert sind, sind die Zuschauerreaktionen groß. Da wurde schon mal in einen Freizeitpark eingeladen, Kleidung gespendet o.ä. Es sind aber nicht nur materielle Dinge. Oft äußern die Zuschauer (auch auf den social media Kanälen) ihren Respekt gegenüber den schuftenden Menschen.

Mal abgesehen davon, dass es Ihr Beruf ist, fürs Fernsehen zu produzieren, was verbindet Sie mit diesem Format?
Ich möchte relevantes Fernsehen machen. Wir haben mit "Armes Deutschland" eine Sozialdoku geschaffen, die hinter die Kulissen der Armut in Deutschland blickt. Plötzlich sind es keine Zahlen oder Statistiken mehr, sondern echte Menschen, die uns ihre Geschichten ungeschönt erzählen. Hier kann es turbulent und kontrovers zugehen, aber auch emotional und bewegend. Dass unser Format ein Sprachrohr für die oft Vergessenen in der Gesellschaft ist, treibt mich an.

Können Sie uns noch verraten, worum es in den neuen Folgen geht?
Wir haben wieder eine spannende Mischung aus altbekannten Protagonisten und ganz neuen. Wir begleiten u. a. einen 50-Jährigen, der seit einem Jahr obdachlos auf den Straßen von Mallorca in El Arenal lebt, und zürück nach Deutschland will.