Wenn man die Serie "Reservation Dogs" empfiehlt, dann muss man zu Beginn eine Sache klarstellen: Obwohl die Serie so heißt und man auf allen Werbefotos für sie junge Menschen in klassischen schwarzen Anzügen sieht, hat "Reservation Dogs" rein gar nichts mit dem brutalen Filmklassiker "Reservoir Dogs" zu tun. Statt um harte Gangster geht es hier um vier junge Menschen, die in den USA in einem Reservat für Indigene leben – und von einer besseren Zukunft träumen.
Um diese zu erwirtschaften, unternehmen sie kleine Gaunereien, überfallen beispielsweise einen Lastwagen, der Kartoffelchips transportiert, um diese dann selbst unter ihren Freunden verkaufen zu können. Gute Ideen haben sie, allzu geschickt stellen sie sich aber nicht an. So die recht einfache Prämisse. Natürlich versteckt sich hinter "Reservation Dogs" bei Disney+ aber noch viel mehr als es zu Beginn den Anschein macht.
Kampf raus aus dem Reservat – und mit sich selbst
Denn obwohl hinter der Serie unter anderem Taika Waititi steckt, der für brüllend komische Filme wie "5 Zimmer Küche Sarg" oder "Thor: Tag der Entscheidung" verantwortlich ist, überrascht früh der menschliche und emotional-fundierte Tonfall, den "Reservation Dogs" anschlägt. Der Anführer der Vierergang etwa, Bear Smalhill (D'Pharaoh Woon-A-Tai), wirkt auf den ersten Blick wie der typische sympathisch-tollpatschige Draufgänger, den schon so viele Teenstoffe gezeigt haben. Doch schnell etabliert Serien-Chefautor Sterlin Harjo (er wuchs selbst in einem Reservat in Oklahoma auf und verarbeitet hier eigene Erfahrung), dass Bear schwer mit sich hadert, dass er sich seiner Rolle im Leben und innerhalb der Clique nicht bewusst ist – und dass ihm in seiner Kindheit eine Vaterfigur gefehlt hat. Dies kompensiert er auf schräge Weise: Immer wieder hat er Vision eines Indianerkriegers aus seiner Ahnenreihe (Dallas Goldtooth), der in der Schlacht am Little Bighorn im Jahr 1876 verstarb und seinem Nachfahren nützliche Tipps geben will – die sich aber nicht selten als totaler Kauderwelsch herausstellen.
Auch die anderen drei haben ihre Eigenheiten: Elora Danan Postoak (eine Wucht: Devery Jacobs) träumt von einem Leben in Kalifornien und hat ihre Mutter schon im Kleinkindalter verloren. Sie ist das energetische Bündel der "Reservation Dogs", doch schraubt sie ihre Erwartungshaltung meist so hoch, dass sie sich selbst von einer Enttäuschung in die nächste stürzt. Willie Jack (Paulina Alexis) ist da anders gepolt, sie sieht sich selbst als "Tomboy", will sich mit der sozialen Geschlechterrolle einer Frau nicht anfreunden und kämpft gegen Vorurteile an. Der vierte im Bunde ist Cheese (Lane Factor): Er ist eine gutmütige Natur, liebt seine Freunde über alles und unterstützt sie bei ihren Plänen, auch wenn er oft weiß, dass sie auf ein Scheitern hinauslaufen und man sich nur wieder Ärger mit dem abergläubischen Polizisten Big (Zahn McClarnon) einhandeln wird.
Lesetipp
Die "Reservation Dogs": Figuren, mit denen man sich anfreundet
An vielen Stellen wird die Serie als Comedy gelistet. Wer aber erwartet, hier regelmäßig vor Lachern kaum noch atmen zu können, ist beim falschen Programm gelandet: "Reservation Dogs" ist vor allem ein wahrhaftiges Drama um vier Kids, die von der Gesellschaft und dem System, in dem sie leben, vernachlässigt und vergessen wurden und gegen diese Ungerechtigkeit rebellieren – wenngleich ohne Erfolg. Geradezu sensationell gelingt es den Autoren, die indigene Szene und das Leben in den US-Reservaten einem internationalen Publikum nahezubringen. Bei "Reservation Dogs" lernt man in jeder Szene etwas Neues über eine Kultur, die viel zu oft anderswo nur durch plumpe Stereotypen in Erscheinung tritt. Dabei ist "Reservation Dogs" vor allem deshalb teils brillant, weil sie nie zwangsläufig politisch oder mahnend werden muss und erst recht bei aller Tragik nur selten schwerfällig gerät: Es macht einfach viel Spaß, mit diesen Teens Zeit zu verbringen, sich mit ihnen "anzufreunden". Und es hilft, dass man für die Hauptrollen vier fantastische Jungdarsteller gecastet hat, die in einer fairen Welt alle eine große Karriere vor sich haben dürften.
Einst waren die "Reservation Dogs" zu fünft und was aus dem fehlenden Mitglied der Bande geworden ist, sollte man in der Serie selbst erfahren. In den USA ist das Format zu einem Kulterfolg geworden. Zwei Staffeln sind bereits erschienen, eine dritte ist bereits sichere Sache. Das liegt daran, dass sie einerseits diesen ungewöhnlichen, seltenen Blickwinkel in eine unterrepräsentierte Kultur bietet, zugleich aber auch universell ansprechend ist: Es geht letztlich um die Zerrissenheit zur eigenen Heimat im pubertären Alter. Einerseits will man unbedingt dazu gehören, andererseits ist da diese große Sehnsucht, frei zu sein. Einzelne Episoden sind dabei wirklich sehr lustig, andere so melancholisch und poetisch, dass sie zu Tränen rühren.
Es ergibt Sinn, dass diese vier unzertrennlichen Freunde sich selbst "Reservation Dogs", also "Reservat Hunde" nennen, schrieb Franz von Assisi über diese Tiere doch einst: "Dass mir der Hund das Liebste sei, sagst du, o Mensch, sei Sünde? Der Hund blieb mir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde."