"Bei Netflix wird es keine Werbung geben - Punkt", versprach Co-CEO Reed Hastings vor wenigen Jahren. Es klang wie ein Motto, eine Selbstverpflichtung, ein fixes Konzept, an dem der Konzern nicht rütteln würde. Doch nun liegt das vermeintliche Streaming-Mantra in Scherben.
Der Grund: Netflix hat im ersten Quartal 2022 rund 200.000 Abonnenten verloren. Die Nutzerabwanderung ist so groß, dass das Unternehmen über neue Einnahmequellen nachdenkt. Wie die "New York Times" berichtet, will der Streaming-Platzhirsch im letzten Quartal dieses Jahres ein günstigeres, werbegestütztes Abo-Modell einführen.
Was Netflix vorhat, ist nicht nur wegen des Keine-Werbung-Versprechens pikant. Sondern auch, weil Streaming-Dienste lange als Alternative zum regulären TV galten. Die Zuschauer konnten sich das Programm frei aussuchen, mussten keine Werbung über sich ergehen lassen. Das scheint bald vorbei zu sein, zumindest für alle, die etwas günstiger streamen wollen.
Netflix wird linearem TV immer ähnlicher: "Das ist beängstigend"
Noch ist unklar, wann und wie genau das Werbe-Angebot starten soll. Branchenkenner sind aber alarmiert. "Es ist beängstigend, wenn der einzige Weg, das eigene Wachstum wiederzubeleben, das Anbieten billigerer Produkte ist, die das Nutzererlebnis verschlechtern", sagte Rich Greenfield, ein Analyst bei Lightshed Partners, der "Financial Times".
Er bezieht sich bewusst nicht nur auf Netflix. Denn auch andere Plattformen wollen mit Werbe-Abo-Modellen experimentieren, zum Beispiel Disney Plus. Nutzer, die sich für die günstigere Streaming-Version entscheiden, bekommen pro Inhalt, der eine Stunde oder kürzer dauert, vier Minuten Werbung gezeigt. Das geht aus einem Bericht der "Variety" hervor. Ende 2022 soll die neue Abo-Option verfügbar sein.
Streaming-Dienste wie HBO Max, NBC Universals Peacock, oder Paramount Plus hingegen bieten längst werbegestützte Abo-Modelle an. Amazon hat mit Freevee sogar eine Plattform geschaffen, die komplett kostenfrei ist. Nutzer bezahlen mit Lebenszeit, indem sie sich Webespots ansehen.
Netflix' sogenannte revolutionäre Idee ist schon 80 Jahre alt
Streaming-Dienste, die Werbe-Abo-Modelle einführen, werden dem "sterbenden linearen Fernsehen" immer ähnlicher, meint Analyst Greenfield. Schließlich greifen sie auf ein klassisches TV-Element zurück: Fernseh-Werbung gibt es schon seit 1941, sie hat sich über die Jahre als fester Bestandteil der TV-Landschaft etabliert.
"Da muss man schon lachen, wenn Mr. Hastings Investoren erklärt, dass er das Werbe-Geschäft, das seit mehr als 80 Jahren zum TV gehört, studieren und in ein bis zwei Jahren zu einer Entscheidung kommen will", kommentierte das "Wall Street Journal". Was Netflix und andere Plattformen gerade starten, ist also alles andere als revolutionär - auch wenn sie es gerne so verkaufen.
Dass sich gerade der Streaming-Platzhirsch immer weiter ans klassische TV annähert, zeigt sich übrigens auch an anderer Stelle: Unlängst wurde bekannt, dass Netflix an Comedy-Formaten arbeitet, die wie lineares Fernsehen ausgestrahlt werden sollen. Werbung plus Livestreams also - die TV-Transformation hat begonnen.
Experte nennt Werbe-Abo-Modelle "Tod des Streamings"
"Streaming lebt davon, dass Nutzer ohne Unterbrechung ihre Lieblingsserien, -filme und Shows genießen können", findet Marcus Kleiner von der SRH Berlin University of Applied Sciences. Für ihn käme eine breite Einführung von Werbe-Abo-Modellen dem "Tod des Streamings" nahe. Niemand habe Lust, "wie im Privatfernsehen alle paar Minuten Werbung zu sehen", sagte der Medienwissenschaftler zuletzt im Gespräch mit CHIP.
Gefallen dürften die neuen, potenziellen Abo-Modelle auf Netflix aber vielen Werbetreibenden. Brian Wieser, President of Business Intelligence bei Group M, sagte der "Financial Times": "Sie sind sehr daran interessiert, [...] jetzt neue Zielgruppen zu erreichen, an die sie vorher nur schwer herankamen."
Ob Netflix' Nutzerzahlen wieder steigen werden, ist unklar. Es gibt aber optimistische Prognosen - zum Beispiel die des US-amerikanischen Finanzdienstleisters Wells Fargo. Demzufolge werden sich Netflix' Werbe-Mühen auszahlen, wenn auch erst mit der Zeit.
"Eine der wichtigsten Entscheidungen, die Netflix in den kommenden Monaten treffen muss, ist, wie hoch die Anzeigenlast sein wird", heißt es im Bericht der Branchenkenner. Wer will schon in ein günstigeres Abo investieren, wenn er mit Werbung zugeschüttet wird? Obwohl viele Nutzer das vom Fernsehen ja auch nicht anders kennen.