Selten haben sich Serienmacher freiwillig in so große Fußstapfen begeben: Die "Der Herr der Ringe"-Filmtrilogie zählt zu den größten und besten Werken der Filmgeschichte, sie prägten die Popkultur wie wenig Vergleichbares. Und Amazon Prime Video hat es sich zur Herkulesaufgabe gemacht, eine Serie namens "Die Ringe der Macht" zu produzieren, die als Vorgeschichte zu den Filmen dient, und dennoch mit bekannten Figuren aufwartet. Fünf Staffeln sind bereits geplant, eine Milliarde US-Dollar sollen sie den Streamingdienst laut US-Medien insgesamt kosten.

Es ist – neben "House of the Dragon" – die größte Serienproduktion 2022 sowie eine der meisterwarteten Serien aller Zeiten. Sie muss astronomischen Erwartungshaltungen gerecht werden, sofort auf höchstem Niveau liefern und gleichzeitig Figuren vorstellen, die einem so ans Herz wachsen sollen wie einst Frodo, Aragorn und Gandalf. Kann so ein Vorhaben überhaupt gelingen? Nun, sagen wir es nach den ersten zwei Folgen so: Mehr Mühe hätte man sich wirklich nicht geben können.

Die Ringe der Macht: Bombastische Unterhaltung in epischen Bildern

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Als Galadriel noch ernst war: "Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht" spielt über tausend Jahre vor den Filmen.

Es beginnt mit Orchester-Musik, dann spricht eine Frauenstimme aus dem Off: Sie beschreibt die komplizierte Vergangenheit der Elben. Sie spricht von einem bösen Herrscher – Sauron, der die Welt ins Dunkel stürzte, und wir sehen die große, gigantische Schlacht, in der dieser mystische Gegenspieler bezwungen wurde. Doch sie spricht auch von Hoffnung. Danach ein harter Schnitt auf ein kleines, weniger heroisches Volk – jenes der Harfüßer (die Vorläufer der Hobbits). Keine Frage: Die ersten zwanzig Minuten von "Die Ringe der Macht" halten sich exakt an den Aufbau des ersten Kinofilms, "Der Herr der Ringe: Die Gefährten". Eine gute Entscheidung: Anders als bei den als misslungen geltenden "Der Hobbit"-Verfilmungen ist hier das Mittelerde-Feeling sofort zurück und der Ton klar. Es geht um Fantasy-Unterhaltung, um glänzende Helden, mutige Außenseiter und schurkische Widersacher. Wer dafür ein Herz hat, dem kann hier nicht langweilig werden.

Die gesamten zwei Episoden, beide etwas über eine Stunde lang, sind voll von beeindruckenden Spezialeffekten, Fantasy-Welten in nie zuvor gesehener Größenordnung. Die Zwergenwelt Moria (bekannt als Ruine aus den Filmen) dürfte eines der größten Set-Pieces sein, dass es je in einer TV-Serie zu sehen gab – und es sieht fantastisch aus. Es ist wirklich von der ersten Sekunde an klar: "Die Ringe der Macht" ist eine Produktion der Superlative. Sündhaft teuer, unverschämt spektakulär. Ob Wasserfälle erklommen oder Bergtrolle bezwungen werden oder gar flammende Meteoriten vom Himmel stürzen: Selbst "Game of Thrones" hatte nie solche Bilder. "Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht" dürfte für Serien das sein, was "Avatar" im Jahr 2009 fürs Kino gewesen ist.

Ein neuer "Herr der Ringe": Viele frische Figuren, dutzende Plots

Im Zentrum der Serie steht eine aus den Filmen bekannte Elbin, die hier (tausend Jahre vor "Herr der Ringe") noch eine junge Kriegerin ist: Galadriel (Morfydd Clark) hat es sich zur Aufgabe gemacht, Sauron bis an das Ende der Welt zu jagen. Doch nach vielen erfolglosen Jahren haben viele Elben den Glauben daran verloren, dass der dunkle Herrscher noch existiert. Selbst Elbenkönig Gil-galad (Benjamin Walker) befiehlt ihr, die Suche einzustellen. Einzig Elrond (Robert Aramayo) hält noch in Teilen zu ihr. Ihre Geschichte bleibt aber nicht die einzige: Es geht auch um das Harfüßer-Mädchen Elanor Brandyfoot (Markella Kavenagh), das eines Nachts im Wald beobachtet, wie ein mysteriöser Fremder (Daniel Weyman) vom Himmel stürzt und sich ihm annähert.

Und damit noch nicht genug: Die ersten zwei Folgen stellen auch den Wald-Elben Arondir (Ismael Cruz Córdova) vor, der mit der menschlichen Heilerin Bronwyn (Nazanin Boniadi) eine Beziehung führt. Und es gibt sogar noch eine Zwergenprinzessin namens Disa (Sophia Nomvete), die genau wie ihr Gatte Durin IV (Owain Arthur) dann eine tragende Rolle spielen sollte, wenn die titelgebenden "Ringe der Macht" geschmiedet werden. Man muss der Serie hier ein Kompliment machen: Alle vorgestellten Protagonisten sind auf Anhieb passend charakterisiert und sehr divers besetzt. Doch man darf auch fragen: Sind es vielleicht ein paar Figuren zu viel auf einmal?

Aufruf an die Fans: Man wird "Die Ringe der Macht" Zeit geben müssen

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Finstere Orks und andere Monster dürfen in einer "Der Herr der Ringe"-Serie nicht fehlen.

Die ersten zwei Stunden dieser Serie können regelrecht erschlagend wirken, machen viele Fässer gleichzeitig auf, das große Ziel bleibt dabei noch unklar. Hinzu kommt: Aufgrund der regelrechten Fülle an Charakteren, Handlungsbögen und Actionszenen gehen die Autoren noch nirgendwo in die Tiefe. Alle Figuren wirken bislang recht eindimensional, niemand sticht besonders hervor, einige Dialoge sind gar erschreckend hölzern. Man kann sogar noch deutlicher sagen: Wer sich bislang nicht groß für die Welt von Mittelerde und die Figuren des Autoren J.R.R. Tolkien begeistern konnte, dem wird wenig Grund gegeben, hier Interesse zu entwickeln. CNN-Redakteur Brian Lowry schrieb in seiner Rezension böse, aber zutreffend: "Doch trotz dieser wunderschönen, weiten Ausblicke auf Mittelerde […] ist es schwer, der Versuchung zu widerstehen und zu sagen: 'Weck mich, wenn es losgeht.'"

Doch wir wollen fair bleiben: Einer Serie wie "Die Ringe der Macht", als Epos konzipiert, schon bis ins Jahr 2026 mindestens durchgeplant, muss die Zeit eingeräumt werden, sich entwickeln zu dürfen. Schließlich ist in Mittelerde noch keiner vom Himmel gefallen – gut, bis auf den geheimnisvollen Fremden vielleicht. Fans werden diese Geduld mitbringen und alle anderen können sich zumindest sicher sein, dass in diesem Jahr keine andere Serie solche Schauwerte liefern wird wie "Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht".

Eine neue Folge "Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht" erscheint immer freitags bei Amazon Prime Video.