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Neue Michael Jackson-Doku: Ein Gegenentwurf zu "Leaving Neverland"

jacko gross
Getty Images

Die bei Youtube verfügbare Kurz-Doku "Neverland Firsthand: Investigating The Michael Jackson Documentary" will der HBO-Produktion von Dan Reed etwas entgegenhalten. Doch der einseitige Versuch misslingt. Ein Kommentar.

Fans von Michael Jackson wehren sich seit Monaten dagegen, die Missbrauchsdokumentation "Leaving Neverland" vom britischen Filmemacher Dan Reed anzuschauen. Mehr noch: In den unzähligen Kommentarspalten des Internets pöbeln die Anhänger des King of Pop dermaßen laut gegen die Vorwürfe, dass man meinen könnte, sie wären selbst Zeuge von Jacksons Unschuld gewesen.

Hierzulande bringen die Verteidiger des zu Lebzeiten nie für Missbrauch verurteilten Jacksons die "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" an, ein in Deutschland unter § 189 StGB existierender Strafbestand. Doch in Amerika greift kein deutsches Gesetz, ob ProSieben juristischen Folgen drohen, weil der Sender die HBO-Doku für Deutschland eingekauft und am Samstagabend inklusive eigener Einordnung ausgestrahlt hat, ist mehr als fraglich. ProSieben macht sich nicht die Meinung gesendeter Lizenzfilme zu Eigen und kann insofern auch nicht für "Leaving Neverland" belangt werden.

Missbrauchsopfer wagen sich nicht an die Öffentlichkeit

Foto: Getty, Wade Robson soll von Michael Jackson sexuell missbraucht worden sein
Missbrauch an Kindern ist kein Kavaliersdelikt. Es ist gemeinhin bekannt, dass Opfer solcher Taten erst Jahre oder sogar Jahrzehnte später in der Lage sind, über die Vorfälle zu sprechen. Oftmals ist die traumatische Belastung schlichtweg zu groß. Bei einer Rückbesinnung auf die Taten klaffen Wunden auf.

Bei James Safechuck und Wade Robson, den beiden in der "Leaving Neverland"-Doku porträtierten Missbrauchsopfern, sei das nicht anders gewesen - der Filmemacher begleitet diesen Prozess mittels einer chronologischen Erzählung feinfühlig und nachvollziehbar. Erst die psychologische Betreuung hätte den Männern über eine Phase hinweggeholfen, in der sie die Ereignisse ihrer Kindheit verdrängt haben. Schwierigkeiten, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, Depressionen, Störungen des Selbstwertgefühls, Probleme mit Sucht und Drogen - all diese Symptome, die auch die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (DGfPI) in Fällen des Missbrauchs auflistet, machten Safechuck und Robson laut ihren Schilderungen in der Doku in den letzten zwanzig Jahren durch.

Die Geburt ihrer eigenen Kinder fungierte als Auslöser: "Ich sah meinen Sohn und spürte plötzlich, dass es so nicht mehr weitergehen kann", gibt James Safechuck zum Ende der Dokumentation Einblicke in die Beweggründe seiner Jahrzehnte später erhobenen Vorwürfe. Was die Doku nicht erwähnt, weil sie sich mit einem Kommentar zurückhält und lediglich die beiden Protagonisten und ihre Familienangehörigen sprechen lässt: Auch die #MeToo-Bewegung hat in den vergangenen Jahren ein Bewusstsein für Machtmissbrauch geschaffen, welches in den 90er-Jahren und Anfang der 2000er noch undenkbar gewesen wäre. In den vergangenen Jahren brachen so viele Opfer ihr Schweigen, wie nie zuvor. All diese Menschen sollen Lügner sein und es "nur auf die Kohle abgesehen" haben, wie es die Kritiker gebetsmühlenartig wiederholen?
Michael Jackson sah sich schon zu Lebzeiten zweifach (1993/94 und 2004/05) dem öffentlichen Vorwurf ausgesetzt, er habe sich an Kindern vergangen - nachweisen konnte man es ihm aus unterschiedlichen Gründen nie. Beim Fall Evan Chandler in den 90ern einigten sich beide Parteien außergerichtlich, die Familie soll mehr als 20 Millionen Dollar Entschädigung erhalten haben. Beim 6-monatigen Strafprozess im Jahr 2005 wurde Michael Jackson von einem Gericht freigesprochen, unter anderem weil Zeugen, darunter "Kevin allein zu Haus"-Star Macaulay Culkin und der nun öffentlich in Erscheinung tretene Wade Robson, aussagten, nie unangemessenes Verhalten bei Jackson bemerkt zu haben.

Eine Erzählung, die nun auch vom Jackson-Clan in der Gegen-Doku "Neverland Firsthand: Investigating The Michael Jackson Documentary" erneuert wird:

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Die Doku stammt von einem für Promi-Interviews bekannten Produzenten namens Liam McEwan und dem bislang nur durch Werbevideos aufgefalllenen Regisseur Eli Pedraza. In den 30 Minuten werden Interviews mit Jacksons innerem Kreis gezeigt und die Vorwürfe der Pädophilie, die im HBO-Film über vier Stunden minutiös dargelegt werden, hart verurteilt. Dafür kommen allerdings weder Experten zu Wort, noch stützt sich der Film auf seriöse Argumente. Ein Vorwurf, den Kritiker vor allem der "Leaving Neverland"-Doku machen - dort sei die Einseitigkeit der Darstellungen ein Problem, filmisch wie journalistisch. Dies gilt umso mehr für "Investigating The Michael Jackson Documentary", einen Schnellschuss-Supercut, der von sich behauptet, "Informationen, die von der HBO-Sendung ignoriert wurden", näher zu beleuchten. Dazu zählt dann ein Voice-Over von Hollywoodstar Will Smith, in dem er kundtut, warum Prominente Versicherungen gegen Klagen abschließen. Fazit: Es gäbe zu viele Menschen da draußen, die es nur auf das Geld abgesehen hätten.

Kurioserweise soll ausgerechnet dieser O-Ton als Argument dienen, folgende Theorie zu entkräften: Wer mehr als 20 Millionen Dollar an eine Familie zahlt, die angeblich keinen Schaden genommen hat, ist schuldig. Diese Annahme sei Quatsch, denn die Zahlung wäre von der Versicherung Michael Jacksons ausgegangen, nicht von ihm selbst.

Einseitigkeit ohne Tiefe

Foto: Getty, Michaels Nichte Brandi Jackson (l.) behauptet, Robson gehe es nur um das Geld
Michael Jacksons Neffe Taj Jackson und seine Nichte Brandi Jackson sowie sein langjähriger technischer Direktor Brad Sundberg, die allesamt regelmäßig auf dem riesigen Anwesen (11 km²) der Neverland Ranch übernachteten, dürfen Michael Jacksons Unschuld beteuern: "Nicht in einer Millionen Jahre habe ich in der Nähe von Michael Jackson ein Kind gesehen, das aussah, als wäre es verzweifelt, verletzt und misshandelt worden", gibt Sundberg an. Michaels Nichte Brandi Jackson, die sich eine zeitlang mit Wade Robson datete, verrät: "Er war immer eine Art Opportunist (...) und er weiß, wie man sich verhalten muss, um finanziell zu profitieren."

Kaum verwunderlich, dass ein Anwalt von Wade Robson auf diese Behauptungen reagiert: "Frau Jackson war nicht bei Wade und Michael Jackson, als es zu sexuellem Missbrauch kam. Daher hat sie nichts Relevantes zu diesem Thema zu sagen", heißt es in einem Statement. Warum die Doku verbalen Allgemeinplätzen wie diesen Raum gibt und lediglich die Gegenseite zu Wort kommen lässt, ist eindeutig: Sie wissen Millionen von Michael Jackson-Fans auf ihrer Seite. Um journalistische Tiefe brauchen sie sich nicht zu scheren - Dan Reed muss sich mit "Leaving Neverland" Millionenklagen erwehren.

Kommentare unter der Doku bei Youtube veranschaulichen das Dilemma: "WOW WOW WOW!!!! Dieses Video hat mich umgehauen. (...) Ruhe in Frieden Michael, deine echten Fans lieben dich so!" schreibt ein User da zum Beispiel.

Die Vorwürfe werden nicht widerlegt

Dass es sich hierbei um einen sachgerechten Gegenentwurf zu "Leaving Neverland" handelt, ist unverhältnismäßig. Ja, Dan Reed lässt in seiner Doku vor allem die Missbrauchsopfer zu Wort kommen, keine Verteidiger von Michael Jackson - das ist eine bewusste filmische Entscheidung, die man journalistisch fragwürdig finden kann. Doch: Jahrelang hat der preisgekrönte Filmemacher, unter anderem gewann er einen BAFTA Award für seine Doku "The Paedophile Hunter" (2014), recherchiert, Interviews geführt und Material für seine vierstündige Dokumentation gesichtet. Die Macher von "Neverland Firsthand: Investigating the Michael Jackson Documentary" machten sich weit weniger Arbeit. Sie stellten eine halbstündige Verteidigungsrede von Michael Jacksons Familienagehörigen und Anhängern ins Netz und lieferten damit der wütenden Masse einen Freibrief für ihre Pöbeleien.

Nachdem "Leaving Neverland" ausgestrahlt wurde, haben Robson und Safechuck ihren Vorwürfen standgehalten und sich zu einer Handvoll Interviews zusammengesetzt, einschließlich eines längeren Gesprächs mit der US-Moderatorin Oprah Winfrey. Die Fernseh-Ikone war Gastgeber einer stundenlangen Diskussion mit den beiden Männern sowie dem Regisseur Dan Reed. Vorurteile, wonach die beiden es nur auf das Geld abgesehen hätten, wurden ausgeräumt. Beide konnten glaubhaft belegen, dass sie es finanziell nicht nötig haben, mit falschen Anschuldigungen dem Erbe des Jackson-Clans zu schaden. Einem Schuldspruch Michael Jacksons wird daraus noch nicht.

Vorwürfe muss sich Dan Reed gefallen lassen: Im Nachhinein sind einige Ungenauigkeiten in der Doku aufgefallen, die die Glaubwürdigkeit des Films beeinträchtigen. Dies ist bitter und nicht akzeptabel, da vor allem der Filmemacher dafür garantieren muss, Details gegenzuchecken. Dass Erinnerungen von Siebenjährigen lückenhaft sein können, ist logisch. Unklarheiten beweisen allerdings noch lange nicht, dass der Missbrauch von Safechuck und Robson frei erdacht ist. Die weitreichend geschilderten Manipulationen des 2009 verstorbenen Michael Jacksons hinterlassen ihre Spuren - bis heute.