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Lügenmärchen von Walt Disney: "Pocahontas" verdreht die Tatsachen

Pocahontas, Disney
Disney-Kinder wuchsen mit "Pocahontas" auf. Doch der Film ist in seiner Darstellung einer historischen Person hochgradig problematisch. The Walt Disney Company Germany

Als einziger Disney-Zeichentrickfilm basiert "Pocahontas" auf wahren Begebenheiten. Allerdings sind die historischen Fehler dabei so enorm, dass der Film seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1995 immer wieder scharfe Kritik abbekommt.

Die Zeichentrickfilme der Walt Disney Studios sind bekannt dafür, Märchengeschichten zu verfilmen. Der erste Disney-Film war schließlich einst "Schneewittchen und die sieben Zwerge", und selbst moderne Disney-Animationshits wie "Die Eiskönigin" sind grob an Märchen und Sagen angelehnt. Eine Ausnahme macht dabei allerdings "Pocahontas". Als einziger Disney-Trickfilm basiert dieser auf einer wahren Geschichte: Pocahontas gab es wirklich, ebenso den weißen Siedler John Smith.

Genau hier liegt aber auch für viele Disney-Fans das Problem. Es ist eine Sache, ein altes Märchen wie "Die kleine Meerjungfrau" von Hans Christian Andersen zu modernisieren und daraus einen Film wie "Arielle, die Meerjungfrau" zu machen. Aber es ist etwas ganz anderes, die Lebensgeschichte einer historischen Person zu verfälschen, um sie für Kinder tauglich zu machen. Wer war die "wahre Pocahontas"? Und wie stellt der Disney-Klassiker sie und ihr Leben da?

Anders als bei Disney: Die echte Pocahontas

Um das Jahr 1595 wurde Pocahontas als Tochter von Stammeshäuptling Powhatan in dem Areal geboren, das heute der US-Bundesstaat Virginia wäre. Ihr eigentlicher Name soll laut Historikern Matoaka gewesen sein. "Pocahontas" war nur ein Spitzname, der übersetzt "die Verspielte" bedeutete. 1607, als Pocahontas zwölf Jahre alt wurde, bauten Siedler in der Nähe ihres Stammes die Stadt Jamestown auf. Unter ihnen: Die 27-jährige John Smith.

Was sich nun genau abspielte, ist unklar, doch Smith verfasste lange Zeit später seine Memoiren. In diesen schildert er, er sei einmal in Gefangenschaft des Algonquin-Stammes geraten und von Pocahontas gerettet worden. Sie habe ihm die Lebensart der Ureinwohner gelehrt, außerdem deren Sprache und glaubte an eine friedliche Koexistenz der Ureinwohner und der britischen Siedler. Im Jahr 1613 lockten die Engländer Pocahontas auf ein Schiff, nahmen sie als Geisel und "konvertierten" sie zum Christentum. 1614, heiratete sie den Jamestown-Mitgründer John Rolfe, aus Hoffnung, so einen Frieden zwischen den Jamestown-Kolonisten und den Virginia-Alqonquin zu erreichen und ging mit ihm nach England, wo sie als Mitglied der adeligen Gesellschaft gar am königlichen Hofe empfangen wurde, ehe sie drei Jahre später verstarb.

Wie "Romeo und Julia": Der Pocahontas-Mythos

Foto: The Walt Disney Company Germany, Im Disney-Film ist "Pocahontas" eine mythische Gestalt.

Bei all dem gibt es aber ein Problem: Die Schilderungen aus Smiths Memoiren lassen sich nicht belegen. Eher gehen Historiker davon aus, diese seien von ihm erfunden. In seinen ersten Berichten über seine Begegnungen mit Pocahontas taucht sie nur am Rande auf, erst Jahre später schrieb er über seine "Rettung durch Pocahontas". Darüber hinaus schildert Smith in seinen Memoiren auffallend oft, von Frauen aus brenzligen Situationen gerettet worden zu sein. Es erscheint der Eindruck eines Mannes, der in seinen letzten Schriften seine "unvergleichliche Wirkung" auf das andere Geschlecht herbei fantasiert.

Schon kurz nach Pocahontas Tod wurde sie ein Teil der US-amerikanischen Mythologie und eine Ikone der Siedlungshistorie. Mitte des 17. Jahrhunderts erschienen erste Geschichten über sie, in denen ihr und John Smith eine Liebesbeziehung angedichtet wurden. Die Tatsache, dass Pocahontas aus Liebe zu den Siedlern "überlief" und "aus freien Stücken" einen weißen Mann heiratete, wurde über die Jahrhunderte als Rechtfertigung des Kolonialismus genutzt. In den 1970ern brach in den USA unter Feministinnen ein Streit darüber aus, ob Pocahontas eine Verräterin gewesen ist, die aus naiver Liebe heraus ihr Volk im Stich ließ. Neil Young schrieb 1979 seinen Song "Pocahontas", in dem er einerseits die Landnahme der weißen Siedler kritisiert, andererseits aber auch über die Vorstellung singt, mit Pocahontas zu schlafen. Aus einer Ureinwohnerin, die sich für den Frieden zwischen Stammes-Mitgliedern und Kolonisten einsetzte, wurde eine "Romeo und Julia"-Figur, eine Prinzessin, die als Beweis für die angeblich friedliche Besiedelung Amerikas dienen sollte.

Der Zeichentrickfilm: Das Pocahontas-Märchen

Foto: The Walt Disney Company Germany, Pocahontas und John Smith als Liebespaar? Nicht in der Historie.

Genau dieses Narrativ bedient auch der Disney-Film. Hier ist Pocahontas bereits eine volljährige Frau, als sie John Smith trifft. Der wird als jemand gezeigt, der nach und nach ein echtes Interesse an der Lebensweise der Ureinwohner hegt und gemeinsam mit den anderen Siedlern durch Pocahontas die Toleranz erlernt. Einzig der böse Gouverneur Ratcliffe will sich nicht bekehren lassen und sorgt für einen tragischen Schluss, in dem John Smith, in den sich Pocahontas mittlerweile unsterblich verliebt hat, angeschossen wird und nach England zurückmuss – und daher nicht bei seiner geliebten Pocahontas bleiben kann.

Damit ist auch Disneys "Pocahontas" ein Wohlfühl-Film über den Kolonialismus, der den Eindruck erweckt: "Allzu schlimm ist es damals doch gar nicht gewesen. Es waren nur einige wenige, die den Frieden gestört haben." Christiane Peltz von der Zeit schrieb 1995, der Film zeige Pocahontas als "Öko-Prinzessin", die "erstens symbolisch jedwede Nation mit ihren Minderheiten und zweitens Amerika mit seiner Geschichte" versöhne und schildere, der Film würde amerikanischen Kindern ein falsches, romantisiertes Bild von der Dezimierung der Ureinwohner durch die Siedler zeigen. Auch aus dem Lager der Algonquin-Nachfahren hagelte es Kritik dafür, wie die Ureinwohner als "magische Wesen" mystifiziert wurden, die mit Bäumen und Tieren sprechen können. Das Lexikon des internationalen Films attestiert "Pocahontas" ebenfalls einen "fragwürdigen Naturmystizismus".

Es gibt aber auch die Gegenseite: Viele Kritiker lobten den Disney-Konzern dafür, mit diesem Film eine starke, emanzipierte Kriegerin als Identifikationsfigur für junge Mädchen zu zeigen und wiesen auf das Erziehungspotenzial des Films hin. Martin Szymanski vom Word Magazine schrieb von "einem guten Film, um den Kleinen in der Familie Toleranz und Verschiedenheit zu erklären". Der berühmte Filmkritiker James Bernadinelli fand sogar, dass "jeder, der von einem Disney-Zeichentrickfilm historische Richtigkeit erwartet, sich schämen sollte".

Komponist Alan Menken, der für "Pocahontas" zwei Oscars gewann (Beste Filmmusik & Bester Filmsong), erkannte 25 Jahre später jedoch die Probleme der Disney-Version und sagte über die Möglichkeit einer "Pocahontas"-Realneuverfilmung: "Ich weiß nicht, ob wir jemals in der Lage sein werden, Pocahontas nochmal zu machen. Mit der heutigen Sensibilität wäre es kaum denkbar."

"Pocahontas" ist bei dem Streamingdienst Disney+ verfügbar.