Vor zwei Jahren sollte die kleine Schwester von Sherlock Holmes, die kluge und freche Enola, die große Leinwand im Sturm erobern – doch die Corona-Pandemie verhinderte das. Stattdessen erschien ihr erstes Abenteuer exklusiv beim Streamingdienst Netflix und begeisterte dort die Abonnenten. "Enola Holmes" überzeugte mit einem witzigen Krimi-Fall für Kinder und Erwachsene, tollen Kostümen, cleveren Dialogen und einer Millie Bobby Brown, deren quirlige Ausstrahlung in der Titelrolle sie sofort zur Ikone für junge Frauen werden ließ.
Jetzt hat Netflix einen zweiten Teil hinterhergeschoben und die große Frage ist natürlich: Ist "Enola Holmes 2" so gut wie sein Vorgänger? Die überraschende Antwort: Er ist sogar noch deutlich besser – und dürfte bislang der beste Netflix-Originalfilm 2022 sein.
Teil 2: Wie geht es weiter für "Enola Holmes"?
Ihr Leben lang stand Enola Holmes (Millie Bobby Brown) schon im Schatten ihres weltberühmten Bruders, dem Meisterdetektiv Sherlock (Henry Cavill). Doch mittlerweile ist sie volljährig und hat sich ihre eigene Karriere als Privatdetektivin aufgebaut – leidet aber darunter, als Frau im Jahr 1888 nicht immer ernstgenommen zu werden. Da flattert endlich wieder ein neuer Fall ins Haus: Eine Streichholzfabrik-Arbeiterin ist spurlos verschwunden. Enola soll herausfinden, was mit ihr passiert ist.
Bei ihren Nachforschungen findet sie heraus, dass in jüngster Vergangenheit immer häufiger Arbeiterinnen der Fabrik an Typhus erkrankt sind. Ehe sie sich versieht, führen ihre Ermittlungen sie in die höchsten gesellschaftlichen Kreise und an den Kern einer weitreichenden Verschwörung mit erschreckenden Ausmaßen. Dabei ergibt sich ein zusätzliches Problem: Auch Bruder Sherlock ermittelt derzeit in einem Fall, der ihn in die exakt selbe Richtung führt. Ein Konkurrenzkampf der Geschwister beginnt – oder müssen sie sich vielleicht zusammentun, um die Wahrheit ans Licht zu bringen?
Enola Holmes 2: Spaßige Stimmung, ernste Geschichte
Im Vergleich zu den meisten "Sherlock Holmes"-Adaptionen überzeugte der erste "Enola Holmes"-Film vor allem damit, eine große Portion Lebensfreude auszustrahlen. Der Kriminalplot war nur Mittel zum Zweck und allzu spannend wurde es sicherlich nie. Stattdessen war die Stimmung Grund für den Publikumserfolg: Enolas lebensfrohe Art und ihre Überzeugungskraft sorgten für den Spaß. Insbesondere die vielen Brüche der "Vierten Wand" (Momente, in denen Enola direkt in die Kamera sah und mit dem Zuschauer sprach) waren genial eingesetzt – kein Wunder, führt bei beiden Enola-Abenteuern doch Harry Bradbeer die Regie, der schon die Serie "Fleabag" inszenierte (in der ebenfalls mit diesem Stilmittel grandios gespielt wird).
"Enola Holmes 2" gelingt jetzt aber ein Kunststück. Er behält die lockere Erzählweise, die sympathisch-herzlichen Charaktere und die Gute-Laune-Stimmung des Vorgängers bei, erzählt zugleich aber eine ernste Geschichte mit dramatischen Inhalten. Erneut geht es um die Stellung der Frau in einer von Männern kontrollierten Gesellschaft, erneut taucht Helena Bonham Carter in ihrer herrlichen Rolle als Enolas aktivistische Suffragetten-Mutti auf. Doch die Fortsetzung erzählt nicht nur von Geschlechterunterschieden, sondern vor allem vom Klassismus. Die desaströsen Arbeits- und Lebensbedingungen in den Armenvierteln werden ungeschönt gezeigt, die Verschwörungsgeschichte führt Enola schließlich an die Spitze der Gesellschaft – etwa in einer virtuosen Sequenz, in der sie einen opulenten Ball der Schickeria Londons besucht und sich nur widerwillig ganz hüftsteif der herrschenden Etikette beugen muss. Wunderbar wird hier der Kontrast aufgezeigt, zwischen den lebensfremden Problemen der Oberschicht und den existenziellen Nöten der Unterschicht. Der durchweg feministisch-moderne Charakter dieser Filmreihe kommt so gar noch besser zur Geltung als zuvor.
Wie im Vorgänger: Millie Bobby Brown ist eine Sensation
Diese ernsteren und teils auch an historische Ereignisse gekoppelten Zwischentöne tun der Welt der Enola Holmes gut, weil sie vor allem der großartigen Millie Bobby Brown mehr Möglichkeiten geben, ihr Talent auszuspielen. Mit entwaffnender Schlagfertigkeit ist sie erneut die Sensation des Films – und profitiert gewaltig davon, dieses Mal noch viel mehr Szenen mit Henry Cavill zu teilen. Die Chemie der beiden ist exzellent gelungen und ein idealer Motor für die Konflikte des Films. Zudem muss "Enola Holmes 2" dafür gelobt werden, als eine von wenigen Netflix-Produktionen sehr gute Actionszenen an Bord zu haben. Eine Verfolgungsjagd per Pferdekutsche ist von Kameramann Giles Nuttgens wunderbar eingefangen und das überraschend spannende Finale in einem Theaterhaus bietet gleich mehrere tolle Wow-Momente. Hilfreich ist auch, dass für die Reihe der wunderbare Daniel Pemberton die Filmmusik verantwortet, der längst zu einem der interessantesten Komponisten seiner Ära geworden ist.
Am Ende wird natürlich schon "Enola Holmes 3" vorbereitet, auf den man sich direkt freuen kann. Ist also alles perfekt an dieser Fortsetzung? Sicher nicht. Einige Twists sind etwas zu arg vorhersehbar, die Liebeleien zwischen Enola und Lord Tewksbury (Louis Partridge) geratet nur halb so süß, wie es wohl beabsichtigt war, und so hätte man aus dieser Fortsetzung gut und gerne an die 20 Minuten rausschneiden können.
Dennoch: "Enola Holmes" hat sich mit dieser Fortsetzung bei Netflix als eine Marke etabliert, die gerne noch eine ganze Weile laufen dürfte – und nach einigen bitteren filmischen Enttäuschungen dieses Jahr für den Streaminganbieter auch bitter nötig war.