Als 2021 der Sommer-Blockbuster "Red Notice" bei Netflix erschien, ging das Star-Vehikel gehörig baden: Trotz eines Budgets von circa 150 Millionen Dollar war der Film nicht nur genauso unlustig wie langweilig, sondern sah auch noch grottenschlecht aus. Die miesen Effekte wurden gar zum Thema in zahlreichen Internet-Memes. Der Film war – insbesondere angesichts der immensen Kosten – nicht nur qualitativ enttäuschend, sondern gar ein wenig peinlich.

Auch 2022 hat Netflix im Sommer mit "The Gray Man" wieder ein großes Star-Vehikel, mit circa 200 Millionen Dollar Budget ist er gar noch ein ganzes Stück teurer, die bislang teuerste Netflix-Produktion. Das Resultat spottet jedoch jeder Beschreibung. Was früher mal direkt auf DVD und somit schnell auf den Grabbeltischen der Videotheken gelandet wäre, sind heute die Blockbuster der Streamingwelt. Filmfans gucken in die Röhre.

Papierdünner Plot, lärmende Daueraction: "The Gray Man" verärgert

Die Story von "The Gray Man" ist so hauchdünn, dass sich eine Zusammenfassung kaum lohnt. Den beiden Regisseuren Anthony und Joe Russo, die immerhin den Marvel-Megahit "Avengers: Endgame" inszenierten, geht es nur darum, die vielen ewiglangen Actionszenen irgendwie aneinanderhängen zu können. Im Zentrum steht der überragende CIA-Agent Court Gentry (Ryan Gosling), der, als er Staatsgeheimnisse aufdeckt, die seinen Arbeitgeber belasten, von seinen eigenen Leuten gejagt wird. Die Jagd leitet der psychopathische Killer Lloyd Hansen (Chris Evans), dem, um sein Ziel zu erreichen, wirklich jedes Mittel recht ist.

Mehr Handlung gibt es nicht. Nach nur fünf Minuten und ohne eine Spur von Charakterzeichnung geht bereits die erste lange Actionszene los, danach hetzt der Film ohne Atempause durch seine 129 Minuten. Wenn nicht gerade Köpfe eingeschlagen werden oder mit Maschinengewehren um sich schießen, bietet "The Gray Man" grausige Verfolgungsjagden, bei denen man sich fragen muss, wofür Netflix 200 Millionen Dollar ausgegeben hat. Eine Verfolgung, in der ein Sportwagen mit einer entgleisenden Straßenbahn konkurriert, ist so hanebüchen konstruiert und so dermaßen mies getrickst, dass sich Actionfans an den Kopf fassen werden.

200 Millionen Dollar ausgegeben: Wo ist das Geld nur hin?

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Ryan Gosling alias Agent Court Gentry muss sich ständig umsehen …

Das restliche Gekloppe und Geballere ist chaotisch gefilmt und wild geschnitten, sodass die Augen kaum realisieren oder gar dem folgen können, was genau passiert. Der Tiefpunkt kommt übrigens gleich zu Beginn: Eine lange Actionszene in einem abstürzenden Flugzeug weckt optisch Erinnerungen an Videospiele der 2000er – man greift fast zum alten Playstation 3 Controller, um das Geschehen steuern zu können. Von dem vielen Geld, das hier ausgegeben wurde, ist nichts zu erkennen.

Die Dialoge, die neben Joe Russo noch Christopher Markus und Stephen McFeely ausgearbeitet haben, sind voll von Plattitüden oder Alphamännchen-Gequatsche der schlimmsten B-Movie-Sorte. Frauenfiguren existieren hier nur am Rande, selbst die sonst so coole Ana de Armas (zuletzt das große Highlight als taffe Kämpferin in "James Bond 007: Keine Zeit zu sterben") darf in diesem angestaubten Männerkino nie mehr als das niedliche Mädchen sein. Der Fokus liegt ganz auf Ryan Gosling, der als wortkarger Held eher gelangweilt auftritt, und auf Chris Evans als Widersacher, der seinen Psychopathen so arg überdreht, als würde er sich auf eine Goldene Himbeere bewerben wollen. Mehr als genau das – der Eine ist der Held, der Andere der böse Typ – erfahren wir über beide Charaktere nie.

Schöne neue Streamingwelt: Ist Netflix Qualität völlig egal?

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… denn Chris Evans alias Killer Lloyd Hansen ist ihm auf den Fersen.

Man könnte noch mehr kritisieren, zum Beispiel das Schauplatz-Gewusel: Von Bangkok über Hongkong bis Baku und Wien spielt der Film überall auf der Welt, gibt sich aber kaum Mühe zu verschleiern, dass fast ausschließlich in Prag gedreht wurde. Oder man könnte darüber meckern, dass ein begabter Komponist wie Henry Jackman musikalisch nur biederen Standard abliefert. Doch stattdessen hier ein konstruktiver Tipp: Wer im Actionkino erprobt ist, wird leicht Alternativen zu "The Gray Man" finden! Wenn man Interesse an Filmen hat, in denen zwei Killer gegenseitig Jagd aufeinander machen, sollte man unbedingt den famos inszenierten "Die Bourne Verschwörung" ansehen (mit Matt Damon und Karl Urban als Kontrahenten) oder direkt den schrägen Kultfilm "Assassins – Die Killer", in dem die zwei sich bekämpfenden Killer (gespielt von Sylvester Stallone und Antonio Banderas) tausendmal unterhaltsamer sind als sämtliche Figuren aus "The Gray Man".

Die Frage bleibt: Ist es Netflix wirklich so egal, was für miese, aber dafür sauteure Filme sie auf die Welt loslassen? Gehen die miesen Kritiken und enttäuschten Publikumsreaktionen an ihnen vorbei? Geht es wirklich nur darum, mit Sensationsnews ("Teuerster Streamingfilm aller Zeiten") und ein paar populären Stars zu ködern ("Bridgerton"-Entdeckung Regé-Jean Page hat einen überflüssigen Gastauftritt, den die Trailer natürlich ausschlachteten)? Hauptsache die Kunden werden neugierig, klicken, bleiben ein paar Minuten dran und füttern den Algorithmus, damit sich bald die nächste Sensationsmeldung verkünden lässt ("Meist gestreamter Netflix-Film"). Wem es nicht gefällt, kann ja einfach zum nächsten Programm umschalten – nur bitte das Abo nicht kündigen. Vielleicht wird ja der nächste Film besser.

Mit dieser faulen Einstellung scheint "The Gray Man" gemacht. Es fehlt an allem: Herzblut, Liebe, Kreativität, vernünftigem Handwerk, Spannung, Spaß, Raffinesse, Unterhaltungswert … Was man mit dem Geld alles besseres hätte anfangen können, auf die Rechnung lässt man sich besser gar nicht erst ein.