Wenige jüngere Filmreihen sind so eng mit ihrem Star verknüpft wie "Die Tribute von Panem" mit Jennifer Lawrence. Die vierteilige dystopische Actionsaga, die von 2012 bis 2015 zum Popkultur-Phänomen wurde, ist undenkbar ohne die Oscar-Preisträgerin, die in der Figur der selbstbewussten Rebellin Katniss Everdeen zur Heldin einer ganzen Generation wurde – und nicht wenige Teenager-Mädchen dazu animierte, sich im Bogenschießen zu versuchen. Dementsprechend muss das Filmstudio Lionsgate vor einem Dilemma gestanden haben, als Romanautorin Suzanne Collins ihr Panem-Universum um ein neues Buch bereicherte, in diesem Katniss aber keine Rolle spielte – immerhin spielt es inhaltlich 64 Jahre vorm ersten Teil.
Trotzdem versucht sich Regisseur Francis Lawrence (er inszenierte bereits die Teile 2 bis 4) wagemutig ohne Katniss an einer Wiedergeburt der Hungerspiele. Der Film mit dem Zusatztitel "The Ballad of Songbirds and Snakes" muss aber nicht ohne bekannte Figuren auskommen. Im Mittelpunkt steht nämlich eine Figur namens Coriolanus Snow. In den Originalfilmen wurde der – großartig diabolisch – von Donald Sutherland gespielt und war der tyrannische Herrscher über Panem, sozusagen Katniss‘ Erzfeind. Im neuen Film ist er selbst noch 18 Jahre jung und auf dem Weg nach oben, vor allem aber ist in seinen ersten Szenen noch keine Spur von jenem Scheusal zu sehen, zu welchem er später werden sollte.
Neues aus Panem: Liebe zwischen Mentor und Tribut
Newcomer Tom Blyth ist als junger Snow zu sehen und er dürfte die Entdeckung des Kinojahres 2023 sein. Von Beginn an brilliert er als blonder Jüngling, der sich als Akademiker mit hohen Ambitionen aus seiner verarmten Oberschichtfamilie an die Spitze der High Society arbeiten will. Sein alkoholkranker Dekan Casca Highbottom (Peter Dinklage) hat es mit Vehemenz auf ihn abgesehen, doch die verrückte Wissenschaftlerin Dr. Volumnia Gaul (Viola Davis) sieht sein Potenzial und bittet ihn um Reformvorschläge für die Hungerspiele, welche sich in einer Krise befinden. Nach einem unerbittlichen Bürgerkrieg wurden diese ins Leben gerufen, um die rebellierenden Distrikte stets an ihre Schande zu erinnern, doch schon nach nur zehn Jahren brechen die Einschaltquoten und das Interesse der breiten Masse weg.
Als Akademie-Absolvent ist Snow nun gezwungen, als Mentor für einen der 24 Tribute zu fungieren. Der, dessen Tribut die beste Show liefert und somit für die höchsten Quoten sorgt, soll ein vielversprechendes Stipendium erhalten. Das Losverfahren bringt Snow mit der Wandermusikerin Lucy Gray Baird (Rachel Zegler) aus Distrikt 12 zusammen. Obwohl diese keine Kampferfahrungen hat, glaubt Snow, dass sie das Publikum der Hungerspiele durch ihren engelsgleichen Gesang für sich einnehmen kann. Doch je besser er sie kennenlernt, umso mehr entwickelt er Gefühle für die schöne und lebenslustige Frau – und bald schon schreckt er auch vor Betrug nicht zurück, um ihr Überleben in der Arena zu garantieren.
Die reifste Geschichte über "Die Tribute von Panem"
Für eine Jugendfilmreihe überraschte "Die Tribute von Panem" schon immer mit sehr nachdenklichen und dystopischen Themen. Neben den zentralen Tötungsspielen Minderjähriger à la "Battle Royale" verhandelten die Filme sozioökonomische Ungleichheiten, neoliberale Gewaltdiktate autokratischer Regime, die Werkzeuge und Wirkungsmechanismen von Propaganda und deren mediale Zurschaustellung auf beiden Seiten eines Konflikts. In der "Panem"-Reihe findet Gewalt nicht nur statt, ihre Wirkung wird immer auch thematisiert, hinterfragt, in ihren Ursprüngen untersucht.
Dreimal wird Snow im neuen Film gefragt, warum die Hungerspiele nötig sind. Erst antwortet er, es ginge darum, die rebellischen Distrikte zu bestrafen, später rät er, es sei eine Warnung an die wohlhabenden Bewohner des Kapitols, ihren Reichtum zu ehren. Beide Antworten benennt ihm die exzentrische Dr. Gaul als falsch. Erst beim dritten Versuch wird ihm zugenickt: "Die ganze Welt ist eine Arena". Passend, der Begriff "Panem" selbst leitet sich schließlich aus dem bekannten Ausdruck über die Gladiatorenkämpfe des römischen Imperiums ab: ‚Panem et circenses‘ ist lateinisch für ‚Brot und Spiele‘.
"Die Tribute von Panem 5" ist ein intimes Epos
In den vorherigen Filmen waren die Hungerspiele vor allem ein Anschauungsbeispiel. Sie verdeutlichten für ein jugendliches Publikum, das im Zeitalter der Sozialen Netzwerke aufwuchs, in denen Gewaltdarstellungen jederzeit omnipräsent verfügbar sind, dass Sensationsgier ihren folgenschweren Preis hat – und dass ein aggressiver Imperialismus die Entmenschlichung des Individuums nicht nur begünstigt, sondern gar benötigt. Dennoch scheiterten die Filme selbst an ihrer Vermarktbarkeit. Das zentrale Liebesdreieck à la "Twilight" rund um Katniss und ihre Verehrer Peeta und Gale verwässerte das intelligentere Material, und das Moralsystem der Filme blieb stets binär: Auf Katniss‘ Seite kämpften die Guten gegen Snow und seine Schergen des Bösen.
Die große Überraschung des Prequels ist nun, aus diesen Fesseln auszubrechen. Francis Lawrence erzählt die Wandlung vom ambitionierten Studenten zum soziopathischen Mörder, die Snow im Film durchläuft, mit hoher Intensität als intimes Epos. In drei Kapiteln schildert er erst die überraschend rührende Romanze zwischen Tribut und Mentor, dann den Verlauf der Hungerspiele und schließlich Snows Wandlung zum gefühllosen Tyrannen, der er später werden soll. Dafür nimmt er sich stolze 157 Minuten Zeit und nutzt diese exzellent: Der moralische Fall Snows (bzw. sein Aufstieg zur Macht) verläuft äußerst subtil und bleibt dabei dennoch immer glaubhaft. Blyth navigiert zielsicher durch die Stationen seines Charakters, aber wichtiger noch: Er findet die menschliche Komponente in diesem Mann, der – wie die anderen Filme zeigten – selbst irgendwann nur noch zu unmenschlichen Taten fähig ist.
Diktator Snow wird in "Panem"-Vorgeschichte zur tragischen Figur
Dass selbst der schrecklichste Diktator als junger Mann mit Träumen und Idealen begonnen hat, wird hier in aller Ausführlichkeit dargestellt und so stecken die Zuschauer ob ihres Vorwissens in einer bösartigen Zwickmühle: Wenn nämlich Tom Blyth und Rachel Zegler nun wirklich authentisch und fast schon unschuldig ihre jugendliche Liebe füreinander spielen und dabei eine exzellente Chemie entwickeln, dann lässt sich nur zu gerne vergessen, welches Vorwissen man über Snow eigentlich mit in den Kinosaal gebracht hat.
Und wenn Snow im finalen Akt schließlich seine Schurkenwerdung vom Empathen zum Egoisten abschließt, dann geschieht dies nicht aus einer Laune heraus, sondern ist ein Resultat der gestörten Bedingungen, unter denen dieser junge Mensch sich ausprobieren, entwickeln und verlieben musste. Verständnis für das "Böse" zu wecken, ist die Herkulesaufgabe dieses Stoffs und "Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes" meistert sie mit Bravour.
In vielen Aspekten übertrifft dieses Prequel seine Vorgänger (bzw. inhaltlichen Nachfolger) nahezu spielerisch. Die Hungerspiele etwa sind hier, mehrere Dekaden vor Katniss, noch keine durchgetakteten Medienspektakel, sondern in ihrer Essenz nicht mehr als ein brutales Arena-Gemetzel, und wirken so glatt so erschreckend und bedrückend wie nie zuvor. Auch für atmosphärische Einlagen ist Zeit: Rachel Zegler hatte in "West Side Story" schon ihr gewaltiges Gesangstalent unter Beweis gestellt und darf auch hier so häufig singen, dass man sich glatt in einem Folk-Musical wähnen könnte. Es sind aber genau diese Augenblicke, in denen die Welt von Panem zum ersten Mal tatsächlich greifbar wird.
Trotz Schwächen ein echter Hit für "Panem"-Fans
Die tollen Kulissen (gedreht wurde u.a. in Breslau, Berlin, Leipzig, Düsseldorf und Duisburg), die wuchtige Filmmusik von James Newton Howard und das starke Ensemble überzeugen fast durch die Bank, besonderes Lob verdient Jason Schwartzman, der als "Moderator" der Hungerspiele quasi den Part von Stanley Tucci aus der Originalreihe übernimmt und mit seinem energetischen Spiel für gehörig viel Spaß sorgt. Einzig Rachel Zegler spielt abseits ihrer Gesangseinlagen an manchen Stellen deutlich zu aufgesetzt: Die Natürlichkeit einer Jennifer Lawrence fehlt ihr. Und es lässt sich kaum bestreiten, dass "The Ballad of Songbirds and Snakes" zeitweise über wenige Stolpersteine ins Wanken gerät. Der Film hat sicherlich ein paar Figuren zu viel, zeigt einige Actioneinlagen zu ausgedehnt und findet in den letzten 15 Minuten mehrfach nicht den richtigen Abschluss.
Letztlich aber gelingt dieser "Die Tribute von Panem"-Vorgeschichte, was vor Kinostart wohl niemand vermutet hätte: Die Reihe hat sich erfolgreich von Jennifer Lawrence abgekapselt und emanzipiert. Wer damals im Teenie-Alter im Kino mit Katniss mitfieberte und das Ende von Snows Herrschaft bejubelte, darf nun im Erwachsenenalter feststellen, dass selbst ein ruchloser Tyrann mehr als eine Seite hat und die Frage nach "Gut" und "Böse" oft nur eine des Standpunkts ist. "Schnee landet immer ganz oben", lässt der junge Snow zu Beginn des Films bereits seine Angehörigen wissen. Am Ende soll er rechtbehalten – nur interessiert es ihn nicht mehr, wen oder was der Schnee unter sich begräbt.
"Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes" ist seit dem 16. November in den deutschen Kinos zu sehen.