Wie wird das Jahr 2018 einmal in die Filmgeschichte eingehen? Vielleicht als das Jahr, in dem die Superheldenfilme endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Mit dem dritten Avenger-Film hat das Comicfilmstudio bewiesen, dass es immer noch einen draufsetzen kann. Und "Black Panther" war das beeindruckende Statement von Black Power in Hollywood. Näher am Puls der Zeit kann man nicht sein.

Außerdem war 2018 das Jahr, in dem Netflix die Kinos eroberte. Zumindest in den USA brachte der Streamingdienst Eigenproduktionen auch auf die große Leinwand, um auch bei den Oscars mitreden zu können. Um dieser Entwicklung zu genügen, sahen wir uns genötigt, zum ersten Mal auch reine Netflix-Filme in unsere Liste aufzunehmen. Gleich zwei haben es in unsere Top 10 geschafft.

2018 war auch ein starkes Jahr für den deutschen Film, auch hier haben es zwei Werke in unsere Liste geschafft.

10) Utoya, 22. Juli

Gleich zwei Filme widmeten sich 2018 den Anschlägen des norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik im Jahr 2011. Paul Greengrass ("Captain Phillips") scheiterte mit einer Rekonstruktion des großen Rahmens, effektiver war der norwegische Regisseur Erik Poppe, der einfach nur die Ereignisse auf der Ferieninsel Utoya aus der Sicht der minderjährigen Opfer schildert - in Echtzeit und ganz ohne billige Thrilleffekte. Darf man das? Ja, denn so bekommen die Opfer wieder ein Gesicht. Der Zuschauer wird buchstäblich zum Mitleiden gezwungen. Ein Film, der an die Substanz geht, wütend und traurig macht. Kurz: Das extremste Kinoerlebnis des Jahres. Kein Vergnügen, aber Kino muss ja nicht immer nur Spaß machen.
(Sebastian Milpetz)

9) Feinde - Hostiles

Wenn es ein Filmgenre gibt, das zugleich sein ganz eigener Mythos ist, dann ist das der Western. Doch kann man eigentlich den immer gleichen Pferden, Landschaften und revolverschwingenden Cowboys noch irgendetwas Bedeutsames abgewinnen? Ja, kann man und "Feinde - Hostiles" von Scott Cooper hat das im Kinojahr 2018 eindrucksvoll bewiesen. Denn unter der angestaubten Oberfläche brodelt ein tiefschürfendes, universelles Drama über ein Leben mit Gewalt und die Folgen daraus und über gegenseitigen Respekt jenseits von Gut und Böse, Freund oder Feind. Ein ruhig erzähltes und doch äußerst grimmiges Erlebnis, getragen von famosen Darbietungen von unter anderem Christian Bale und Rosamund Pike, in dem die Protagonisten das Wilde im Westen in sich selbst ausmachen und neu ausloten müssen. Auch eine Allegorie auf das gespaltene Amerika der Gegenwart. (Woon-Mo Sung)

8) Three Billboards Outside Ebbing, Missouri

Großes Kino nutzt Ambivalenzen und genau darin liegt die erzählerische Stärke von Martin McDonaghs schwarzhumorigem, grotesken (Familien-)Drama um eine trauernde, zugleich engagiert-wütende Mutter, die der überforderten Provinzpolizei plakativ vorwirft, nicht genug für die Aufklärung des Mordes an ihrer Tochter getan zu haben. Oscar-Gewinnerin Frances McDormand spielt als beschädigte Powerfrau eine der besten Rollen ihrer Karriere. Das unverschämt unterhaltsame Trauerstück glänzt mit eindrücklichen Figuren (Woody Harrelson als Sheriff und der ebenfalls Oscar-prämierte Sam Rockwell als gewalttätiger, rassistischer Deputy-Vollpfosten), einer bewegenden Geschichte und einer perfekt austarierten Gratwanderung zwischen Tragik und Komik. Immer wieder findet der Ire McDonagh Umschlagpunkte, die durch Überzeichnung die Emotionen aber auch die Fesseln und Beschränkungen seiner Figuren erhellend offenlegen. Ein kritisches Amerika-Porträt schwingt dabei immer mit. Grandios.
(Holger Lübkemann)

7) Auslöschung

Ein Grauen wie nicht von dieser Welt: "Auslöschung" basiert lose auf gleichnamigen Roman von Jeff VanderMeer und erinnert an Tarkowskys Kinoklassiker "Stalker", ist aber vor allem die bislang beste filmische Annäherung an den Horrorkultautor H. P. Lovecraft und seine "Furcht vor dem Unbekannten". Fünf Wissenschaftlerinnen (darunter Natalie Portman, Tessa Thompson und Jennifer Jason Leigh) wagen sich in die vom so genannten "Schimmer" umhüllte Area X, irgendwo in den USA. In dem Gebiet, das sich langsam ausbreitet, sind bereits mehrere Forschungsteams verschollen - nachdem sie zuvor durchgedreht sind. Alex Garland verlässt in seiner zweiten Regiearbeit (nach dem ebenfalls exzellenten Roboterthriller "Ex Machina") ausgetretene Horrorpfade und zelebriert auf makabre Weise die Kreativität. Mit der "Hilfeschrei-Szene" gelang ihm einer der schaurigsten Momente im ganzen Horrorgenre. "Auslöschung" lief in den USA, Kanada und China kurz und erfolglos im Kino, im Rest der Welt gleich auf Netflix. (Roland Kruse)

6) Der Hauptmann

Deutschland, April 1945, zwei Wochen vor Kriegsende: Ein blutjunger Gefreiter ist von der Front desertiert, findet zufällig Auto und Uniform eines Nazi-Bonzen namens Willi Herold, zieht sich um - und stellt fest, daß er in diesem Aufzug ungeahnte Autorität besitzt... Drama und Satire zugleich, wird man "Der Hauptmann" künftig neben kritischen deutschen Geschichtsbildern wie "Der Untertan" oder "Die Fälscher" nennen müssen. Der Film ist deshalb so verstörend, weil hier nicht wie sonst üblich ein böser Nazi porträtiert wird, sondern ein Niemand, der erst noch zum Täter wird. Ein junger Bengel, fast noch ein Kind, der spielerisch seine Macht austestet, sich an ihr berauscht und dabei grotesk übertreibt. Natürlich verliert er dabei seine Menschlichkeit... Für mich der ungewöhnlichste, härteste, beste Film des Jahres. (Peter Clasen)

5) In den Gängen

Es gäbe mit Sicherheit schönere und interessantere Schauplätze für einen Film als öde Gänge im Großmarkt, in denen sich die Waren nur so stapeln. Doch Regisseur Thomas Stuber entpuppt sich als echter Kinomagier, der zum Leben erweckt, was zum Leblosesten im tristen Alltag der Menschen gehört. So beschallt schöne Musik die gleichmäßig verteilten Regalreihen und fahren Gabelstapler elegant und wie in einer Tanzchoreographie durch die Flure. Und im Herzen dieses Treibens sind Menschen - ganz gewöhnliche Arbeiter mit großen und kleinen Sorgen im Leben, erfüllt von lakonischstem Humor und immenser Traurigkeit, auf die der poetische Kamerablick mit Zärtlichkeit und Mitgefühl fällt, während sie ihren immer gleichen Routinen nachgehen. Und während wir Essen und Getränke suchen, finden sie "In den Gängen" Rat, Freundschaft, Würde - und Liebe.
(Woon-Mo Sung)

4) Avengers: Infinity War

Was die Russo-Brüder sich für den Jubiläumsfilm zum Zehnjährigen des Marvel Cinematic Universe vorgenommen hatten, klang nach Hybris - so viele Helden, so viele Handlungsstränge und lose Fäden wollten stimmig zusammengeführt werden. Doch das Unwahrscheinliche gelang: Der Spektakel-Blockbuster hat die immensen Erwartungen nicht nur erfüllt, er schwang sich mit seiner geballten Power, mit Tempo und Humor (wer hätte gedacht, dass die Paarungen Doc Strange vs. Iron Man und Thor vs. Guardians so lustig sein würden?), mit unzähligen Anspielungen und einem ungetesteten CGI-Bösewicht zum kunstvoll ausbalancierten Pop-Ereignis des Kinojahres auf. Sein "Das darf doch wohl nicht wahr sein"-Finale gehört zu den beeindruckensten (und gewagtesten) Cliffhangern der letzten Jahre. "Infinity War" lieferte den endgültigen Beweis dafür, dass Marvels Superheldenfilme das wild schlagende Herzstück des heutigen Kino-Mainstreams sind, perfekter Eskapismus, schillernd und viril - und den Beweis, dass die Russo-Brüder mit wenigstens zwölf Bällen gleichzeitig jonglieren können. Aber wehe ihr verbockt die Fortsetzung! ("Avengers: Endgame" soll am 25.4.2019 anlaufen.)
(Holger Lübkemann)

3) Florida Project

Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wurde auch damit erklärt, dass arme Menschen in der Öffentlichkeit und damit auch im liberalen Mainstream von Hollywood nicht mehr sichtbar sind. Das änderte "Florida Project". Ohne Sentimentalitäten und falsche Betroffenheit zeigt der Film das Leben in einem Appartement-Komplex im Sunshine State. Disney World liegt gleich daneben, ist für die Bewohner aber unerreichbar, denn sie entstammen der tiefsten Unterschicht. Arme Immigranten und dem, was man in den USA White Trash nennt. Der Clou: "Florida Project" ist hauptsächlich aus der Sicht der sechsjährigen Moonee erzählt, für die der Sozialbau ein einziger Abenteuerspielplatz ist. Mittendrin im Getümmel: Willem Dafoe als Hausmeister und Stellvertreter der Zuschauer, der genervt und wohlwollend die Kapriolen der Bewohner beobachtet.
(Sebastian Milpetz)

2) Black Panther

Glaubt man den Bewohnern des fiktiven afrikanischen Staates Wakanda, dürfte ihr Land für immer bestehen. Glaubt man den Filmbesuchern und Kritikern, könnte das auch für den Marvel-Superheldenstreifen selbst gelten. Über 1 Milliarde US-Dollar spielte das Werk an den Kinokassen ein.
Eine Sensation für einen Film mit hauptsächlich dunkelhäutigem Cast. Bei der kommenden Oscarverleihung könnte die Comicverfilmung als erste überhaupt in das Rennen um den besten Film eingreifen. Eine Überraschung wäre das nicht. Regisseur Ryan Coogler ("Creed") verknüpft die Tugenden eines klassischen Agententhrillers mit einer emotionalen Geschichte über zerschnittene Familienbande und bricht erst gegen Ende vermehrt ins Fantastische aus. Das Superheldenkostüm von Hauptdarsteller Chadwick Boseman wird so zum sehr schmucken Beiwerk und Michael B. Jordan wird als Eric Killmonger zu einem der ambivalentesten Bösewichte der Marvel-Filme.
(Maximilian Fischer)

1) Roma

Ein splitternackter Mexikaner führt im Schlafzimmer seine Stockkampf-Künste vor. Ein Butzemann im Strohkostüm schmettert am Rande eines brennenden Waldes eine alte Weise. Eine Familie hockt unter der ausgestreckten Klaue eines riesigen Metallkrebses. Wer hätte gedacht, dass Netflix einmal so große Kinobilder liefern würde, noch dazu in Schwarzweiß? Entgegen seiner Gewohnheit brachte der Streamingdienst den selbstproduzierten Film vor der Austrahlung denn auch stolz ins Kino. Regisseur Alfonso Cuarón ("Gravity") erinnert sich in "Roma" an seine Kindheit im titelgebenden Viertel von Mexiko-Stadt. Sein Epos thematisiert das "Fronleichnamsmassaker" von 1971 , bei dem Paramilitärs protestierende Studenten ermordeten, im Vordergrund steht aber das - von Cuarons eigener Nanny inspirierte - Haus- und Kindermädchen Cleo, gespielt von der Mixtekin Yalitza Aparicio. Um die "Untergebene" kreist der ganze wohlhabende Arzthaushalt, dessen Idyll binnen zweieinhalb intensiver Stunden von bigotten Männern zerstört und von mutigen Frauen wieder aufgebaut wird. Cuaróns zwei Oscars dürften bald Gesellschaft bekommen.
(Roland Kruse)