Flug in die Nacht - Das Unglück von Überlingen - ARD, Mi., 29.7.2009, 20.15 Uhr
Wie ist es möglich, dass zwei Flugzeuge in 11 000 Meter Höhe zusammenstoßen, obwohl sie weit und breit die einzigen dort oben sind? Die Kollision einer russischen Tupolew-Passagiermaschine mit einem DHL-Frachtflugzeug am 1. Juli 2002 über dem Bodensee bleibt ein bis heute schwer begreiflicher Unfall, bei dem 71 Menschen, darunter 52 russische Ferienkinder auf dem Weg nach Spanien, ums Leben kommen.
Dass die Katastrophe von Überlingen bis heute nachwirkt, hat allerdings einen weiteren Grund: Anderthalb Jahre später, am 24. Februar 2004, wird der beim Unfall dienstleitende Fluglotse Peter Nielsen von dem Russen Witali Kalojew, der seine Frau und zwei Kinder beim Absturz verlor, erstochen. Eine Tragödie shakespeareschen Zuschnitts, die der deutsch-schweizerische TV-Film "Flug in die Nacht" jetzt in schmerzhafte Erinnerung ruft.
Quälend nah am Geschehen
"Diese Geschichte hätte ich selber nicht erfinden wollen", sagt Regisseur und Co-Autor Till Endemann, "weil sie in ihrer Schicksalhaftigkeit und Vehemenz unglaubwürdig scheinen würde, wäre sie nicht tatsächlich passiert."
Mit geradezu quälender Genauigkeit erzählt "Flug in die Nacht" zunächst, wie es zum Zusammenprall kam: Ein alleingelassener, überarbeiteter Fluglotse in einem wegen Instandsetzungsarbeiten eingeschränkt funktionstüchtigen Kontrollraum lenkt zwei Flugzeuge auf Crashkurs.
Dann legt der Film den Fokus auf die Zeit danach. Endemanns Drama versucht nachzuvollziehen, was zur zweiten Katastrophe führte, der Kollision zweier Menschen. Ken Duken spielt den Lotsen, der im Film Johann Lenders heißt, Jevgenij Sitochin den Russen Kalojew, der hier Yuri Balkajew genannt wird.
"Fiktive Geschichte"
Die falschen Namen und ein Vorspann, der darauf hinweist, dass es sich hier um eine fiktive Geschichte handelt, haben vor allem juristische Gründe. Die Handlung ist nah am realen Geschehen - und das ist gut dokumentiert. Große Beachtung schenkten die Macher unter anderem dem Bericht der BFU, der Behörde für Flugunfalluntersuchung, den man unter dem Aktenzeichen AX001-1-2/02 auch im Internet einsehen kann, sowie dem Sachbuch "Kollision aus heiterem Himmel", in dem die Schweizer Autorin Ariane Perret das Verhalten der Akteure analysiert.
Perret gelangte an bis dahin unbekannte Fakten über das Schweizer Flugsicherungsunternehmen Skyguide, die jetzt erstmals auch der TV-Film aufnimmt.
Kollision zweier Kulturen
Während Balkajew sich sofort auf den Weg zum Unglücksort macht und mit Dutzenden von Helfern zwischen Trümmerteilen nach seiner Familie sucht, ruft die Flugsicherungsfirma, die im Film AirGuideControl heißt, eingespielte Selbstschutzmechanismen ab. Der Lotse, der seine Fehler erkennt, wird abgeschirmt. Man befürchtet, dass eine Entschuldigung als Schuldeingeständnis gewertet wird und Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe nach sich ziehen könnte.
Während der sich vollkommen in sein Leid ergebende Balkajew einen Schuldigen sucht, verweist die AirGuideControl immer wieder auf laufende Untersuchungen. Auf der Suche nach Verantwortung, Schuld und Vergebung kommt es schließlich zur tödlichen Konfrontation ...
Aus dem menschlichen Drama hat man wenig gelernt
"Da sind zwei Welten zusammengestoßen, nicht nur zwei Menschen", sagt der russische Schauspieler Jevgenij Sitochin, der sich in die Handlungsweise des Rächers hineinfühlen muss. Tatsächlich geht es in dem TV-Film auch darum: um den Zusammenprall der Kulturen und - in der Person Balkajews - um eine Mentalität, die mit der juristischen Taktiererei des westlichen Rechtssystems wenig anfangen kann und will.
War der Mord am Fluglotsen als Reaktion unvermeidbar? "Wenn die ein Bier getrunken und zusammen geheult hätten, dann wäre das nicht passiert, dann wären die vielleicht sogar Freunde geworden", mutmaßt Lenders-Darsteller Ken Duken. Witali Kalojew, ein Ingenieur, wurde nach der Tat in der Schweiz zu acht Jahren Haft verurteilt, kam aber frühzeitig wieder frei. Er kehrte als Held nach Russland zurück, wo er heute als Vizebauminister Nord-Ossetiens tätig ist.
Aus den technischen Versäumnissen von Überlingen wurden Schlüsse gezogen, die den Flugverkehr heute sicherer machen. Aus dem menschlichen Drama hat man weniger gelernt, wie die jüngsten Flugzeugunglücke vor der Küste Brasiliens und den Komoren zeigen. "Auch hier werden sich die Ermittlungen hinziehen, weil es um viel Geld geht", sagt Regisseur Endemann, "und auch hier wird die Anteilnahme gegenüber den Angehörigen, die sich genau dieses wünschen, wieder nicht erlaubt."
Drei Wochen nach dem Absturz von Air France 447 zahlte die Fluglinie den Hinterbliebenen der 228 Opfer eine erste Entschädigung von je 17 500 Euro. Damit übernehme man aber nicht die Verantwortung für das Unglück, stellte ein Air-France-Sprecher klar. Mitgefühl hört sich anders an.
Heiko Schulze
Dass die Katastrophe von Überlingen bis heute nachwirkt, hat allerdings einen weiteren Grund: Anderthalb Jahre später, am 24. Februar 2004, wird der beim Unfall dienstleitende Fluglotse Peter Nielsen von dem Russen Witali Kalojew, der seine Frau und zwei Kinder beim Absturz verlor, erstochen. Eine Tragödie shakespeareschen Zuschnitts, die der deutsch-schweizerische TV-Film "Flug in die Nacht" jetzt in schmerzhafte Erinnerung ruft.
Quälend nah am Geschehen
"Diese Geschichte hätte ich selber nicht erfinden wollen", sagt Regisseur und Co-Autor Till Endemann, "weil sie in ihrer Schicksalhaftigkeit und Vehemenz unglaubwürdig scheinen würde, wäre sie nicht tatsächlich passiert."
Mit geradezu quälender Genauigkeit erzählt "Flug in die Nacht" zunächst, wie es zum Zusammenprall kam: Ein alleingelassener, überarbeiteter Fluglotse in einem wegen Instandsetzungsarbeiten eingeschränkt funktionstüchtigen Kontrollraum lenkt zwei Flugzeuge auf Crashkurs.
Dann legt der Film den Fokus auf die Zeit danach. Endemanns Drama versucht nachzuvollziehen, was zur zweiten Katastrophe führte, der Kollision zweier Menschen. Ken Duken spielt den Lotsen, der im Film Johann Lenders heißt, Jevgenij Sitochin den Russen Kalojew, der hier Yuri Balkajew genannt wird.
"Fiktive Geschichte"
Die falschen Namen und ein Vorspann, der darauf hinweist, dass es sich hier um eine fiktive Geschichte handelt, haben vor allem juristische Gründe. Die Handlung ist nah am realen Geschehen - und das ist gut dokumentiert. Große Beachtung schenkten die Macher unter anderem dem Bericht der BFU, der Behörde für Flugunfalluntersuchung, den man unter dem Aktenzeichen AX001-1-2/02 auch im Internet einsehen kann, sowie dem Sachbuch "Kollision aus heiterem Himmel", in dem die Schweizer Autorin Ariane Perret das Verhalten der Akteure analysiert.
Perret gelangte an bis dahin unbekannte Fakten über das Schweizer Flugsicherungsunternehmen Skyguide, die jetzt erstmals auch der TV-Film aufnimmt.
Kollision zweier Kulturen
Während Balkajew sich sofort auf den Weg zum Unglücksort macht und mit Dutzenden von Helfern zwischen Trümmerteilen nach seiner Familie sucht, ruft die Flugsicherungsfirma, die im Film AirGuideControl heißt, eingespielte Selbstschutzmechanismen ab. Der Lotse, der seine Fehler erkennt, wird abgeschirmt. Man befürchtet, dass eine Entschuldigung als Schuldeingeständnis gewertet wird und Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe nach sich ziehen könnte.
Während der sich vollkommen in sein Leid ergebende Balkajew einen Schuldigen sucht, verweist die AirGuideControl immer wieder auf laufende Untersuchungen. Auf der Suche nach Verantwortung, Schuld und Vergebung kommt es schließlich zur tödlichen Konfrontation ...
Aus dem menschlichen Drama hat man wenig gelernt
"Da sind zwei Welten zusammengestoßen, nicht nur zwei Menschen", sagt der russische Schauspieler Jevgenij Sitochin, der sich in die Handlungsweise des Rächers hineinfühlen muss. Tatsächlich geht es in dem TV-Film auch darum: um den Zusammenprall der Kulturen und - in der Person Balkajews - um eine Mentalität, die mit der juristischen Taktiererei des westlichen Rechtssystems wenig anfangen kann und will.
War der Mord am Fluglotsen als Reaktion unvermeidbar? "Wenn die ein Bier getrunken und zusammen geheult hätten, dann wäre das nicht passiert, dann wären die vielleicht sogar Freunde geworden", mutmaßt Lenders-Darsteller Ken Duken. Witali Kalojew, ein Ingenieur, wurde nach der Tat in der Schweiz zu acht Jahren Haft verurteilt, kam aber frühzeitig wieder frei. Er kehrte als Held nach Russland zurück, wo er heute als Vizebauminister Nord-Ossetiens tätig ist.
Aus den technischen Versäumnissen von Überlingen wurden Schlüsse gezogen, die den Flugverkehr heute sicherer machen. Aus dem menschlichen Drama hat man weniger gelernt, wie die jüngsten Flugzeugunglücke vor der Küste Brasiliens und den Komoren zeigen. "Auch hier werden sich die Ermittlungen hinziehen, weil es um viel Geld geht", sagt Regisseur Endemann, "und auch hier wird die Anteilnahme gegenüber den Angehörigen, die sich genau dieses wünschen, wieder nicht erlaubt."
Drei Wochen nach dem Absturz von Air France 447 zahlte die Fluglinie den Hinterbliebenen der 228 Opfer eine erste Entschädigung von je 17 500 Euro. Damit übernehme man aber nicht die Verantwortung für das Unglück, stellte ein Air-France-Sprecher klar. Mitgefühl hört sich anders an.
Heiko Schulze