Es tummeln sich eine Menge Leute im engen Eingangsbereich des Klinkergebäudes unweit des Hamburger Schanzenviertels. Und das ist kein Zufall: Täglich werden hier Dutzende neugierige Fans durch die Räume von Rocket Beans TV (kurz: RBTV) geführt. Vorbei an Schnitt und Regie, Ton- und Fernsehstudios, Aufnahmeräumen für Podcasts, einem Großraumbüro für die Redaktion, einer Verwaltung sowie einem riesigen Keller für Requisiten und Merchandise. In dem Gewerbehof mit Hinterhauscharme, wie es gern von Start-up-Unternehmen gemietet wird, residiert diesmal: ein Fernsehsender.

Hier sprechen wir im Interview mit Moderator und Mitbegründer Etienne Gardé über den außergewöhnlichen Internetsender.

Die Wurzeln liegen im Gaming

Kino+ Wöchentliches Kinomagazin mit Hintergründen zur Filmbranche, moderiert von Daniel Schröckert, der auch als Redakteur für "Gätjens großes Kino" im ZDF arbeitet, und Etienne Gardé

Die Rocket Beans oder "Bohnen", wie sie von ihren Fans genannt werden, haben in Zeiten des digitalen Wandels etwas Einzigartiges geschaffen. Sie füllen ein 24-stündiges Programm auf YouTube zu einem Großteil mit Eigenproduktionen: Popkultur, Quatsch, Computerspiele.

Die Wurzeln von Geschäftsführer Arno Heinisch und den Moderatoren Nils Bomhoff, Daniel Budiman, Etienne Gardé und Simon Krätschmer liegen im Gaming. Nachdem MTV ihre Show "Game One" abgesetzt hatte, gründeten sie im Januar 2015 den Rund-um-die-Uhr-Internetsender. Sie selbst beschreiben diesen Schritt als "Flucht nach vorn": Durch die zahlungskräftige Unterstützung der über acht Jahre gewachsenen MTV-Community und mit 25 verbliebenen Köpfen realisierten sie nach dem Jeder-macht-alles-Prinzip sowohl Liveprogramm als auch Aufzeichnungen.

200.000 Zuschauer sind ausbaufähig

Fußball-Talkshow mit Nils Bomhoff, Etienne Gardé, Tobias Escher von Spielverlagerung.de und Ex-Bundesligakicker Ralph Gunesch. Zu Gast waren u. a. Peter Neururer und Lewis Holtby.

Aus 25 sind mittlerweile 80 Festangestellte geworden, das Chaos nimmt ab, und die Community wächst. Mitte 2015 wird den "Raketenbohnen" dafür der Webvideopreis verliehen, und seit dem 1. September 2016 laufen alle Unterhaltungsformate von RBTV auf YouTube - nicht mehr beim Nischenportal Twitch.

Ein neues Publikum soll erschlossen werden, denn rund 200 000 Zuschauer täglich sind ausbaufähig, vor allem wenn einige sehr abseitige Sendungen oft bei wenigen Tausend herumdümpeln.

Sendungen wie im klassischen Fernsehen

Unterhaltungsshow im Late-Night-Stil mit Einspielern, Studioband und teils prominenten Gästen, darunter Jeannine Michaelsen, Culcha Candela, Jan Köppen und Thees Uhlmann.

Für den neu gegründeten Jugendsender RTL II You waren die niedrigen Zahlen nicht entscheidend: Sie kooperieren mit dem Hamburger Internetsender seit Mai 2016 und zeigen auf ihrem Kanal einige Formate parallel zur Ausstrahlung bei RBTV. Bis auf Spielfilme wie "Der Nachtmahr" oder Serienepisoden von "Game of Thrones", die als einmalige Events gezeigt wurden, lassen sich alle Sendungen nachträglich per Video-on-Demand auf YouTube anschauen. Ein charmant missglücktes Interview mit Fußballweltmeister André Schürrle kommt so auf mehr als eine Million Abrufe.

Liveformate wie die Morningshow "MoinMoin", die Late-Night-Show "Bohn Jour" oder die Quizsendung "Chat Duell" sind Aushängeschilder des ansonsten stark gamelastigen Nerd-Senders. Alles Programme, die auch im klassischen Fernsehen laufen. So beweist die am "Familien-Duell" orientierte Spielshow "Chat Duell" durch die aktive Einbindung der Zuschauer mithilfe einer Livechat-Funktion: Etablierte Ideen können auch heute noch funktionieren, wenn sie an heutige Sehgewohnheiten angepasst werden.

Quizformat in Anlehnung ans "Familien-Duell": Zwei Teams schätzen, welche Antworten die Zuschauer im Chat auf verschiedene Fragen geben. Z. B.: "Star Wars oder Star Trek?"

Mit bis zu 70 000 Chat-Kommentaren in der Stunde beteiligen sich die Zuschauer an den Umfragen der Sendung und machen sie zu einem interaktiven Fernseherlebnis. Auch RTL Plus hat eine Neuauflage von "Familien-Duell" ins Programm genommen. Moderatorin Inka Bause behauptet, wie einst schon Werner Schulze-Erdel, "hundert Leute" gefragt zu haben. Der Zuschauerschnitt ist mit 140 000 dennoch deutlich höher. Kräfteverhältnisse, die nicht von heute auf morgen kippen und auch qualitative Gründe haben. Das wissen auch die Macher und verweisen beim Blick auf reduziertes Studiodesign, improvisierte Moderationen oder trashige Einspieler vor allem auf eins: Geld.

Die Rocket Beans Entertainment GmbH hat ein ungleich niedrigeres Budget als klassische TV-Kanäle, wenngleich sie mittlerweile beim Jahresumsatz im unteren einstelligen Millionenbereich liegen. Spenden, YouTube-Einnahmen, Kooperationen, Merchandising und die eigene Vermarktung bringen Geld in die Kasse. Vor allem die Vermarktung wird immer wichtiger: Es gibt Produktplatzierungen, Werbespots und gesponserte Formate wie "Weekly Wahnsinn", finanziert von Jägermeister.

Tägliches Frühstücksformat (ab 10.30 Uhr!) mit wechselnder Moderation und äußerst losem Konzept. Zuschauer-Tweets werden im gemütlichen Plauderton live kommentiert.

Neuerdings kooperieren die Bohnen mit dem ARD/ZDF-Jugendangebot "funk" und realisieren mit öffentlich-rechtlichen Geldern "Game Two", ein Nischenformat als inoffiziellen Nachfolger von "Game One". Die TV-Sender haben verstanden, wie wertvoll eine junge und aktive Community ist.

ZDF-Moderator Jan Böhmermann, der für seine Digitalaffinität bekannt ist und seinen Haussender gern für mangelnden Innovationsmut kritisiert, überzeugte sich selbst vom jungen Hamburger Unternehmen. Als er im Februar dieses Jahres am "Chat Duell" der Rocket Beans teilnahm, verzeichnete der Chat Rekordzahlen, und mehr als 50 000 Zuschauer schalteten ein. Böhmermanns "Neo Magazin Royale" ist ein Beispiel dafür, dass mit hohen Abrufzahlen in der Mediathek, viralen Hits und einer lebendigen Netzgemeinschaft ein Weg aus dem reinen Nischendasein möglich ist.

Autoren: Johannes Noldt und Steven Sowa