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Filme im Ersten

"Süßstofffabrik" Degeto? Nicht mehr.

Bodenbender Wlaschiha 1
"Eltern lügen besser"- Tom Wlaschiha und Silke Bodenbender als Ehepaar, das mit einer Notlüge leben muss (läuft 2017)

Der Name Degeto war lange Inbegriff für Herzschmerzfilme mit Christine Neubauer. Die gibt es so nicht mehr. Was ist mit Deutschlands größter Filmschmiede passiert?

Stunk im Schlafzimmer: Sie hat ihren neuen Arbeitgeber verheimlicht, dass sie eine Familie hat. Sonst hätte sie den Job und damit das Einkommen, das diese Familie dringend braucht, nicht bekommen. Ihr Mann findet dieses - ziemlich mutige - Verwirrspiel nicht so witzig, die Zuschauer später hoffentlich schon.

"Eltern lügen besser" heißt die Komödie, die gerade im Hamburger Villenviertel Nien­stedten gedreht wird. Das Schlafzimmer sieht aus wie aus einem Einrichtungskatalog, den Plot kann man unrealistisch nennen, ebenso wie die Tatsache, dass die Filmfamilie trotz Geldnot in einer lichtdurchfluteten Villa wohnt. Wer jetzt noch hört, dass die Degeto diesen Film produziert, fühlt sich leicht in alten Vorurteilen bestätigt.
Der Heile-Welt-Freitagabend
Die Degeto ist ein Tochterunternehmen der ARD, das für die Sender der Gruppe Filme einkauft und produziert. Lange Jahre stand der Name fast für ein eigenes Genre. Für eins, in denen entweder Christine Neubauer oder Hansi Hinterseer die Hauptrolle spielen. Für Filme, die mit billigsten dramaturgischen Mitteln unterhalten wollen. Die nichts infra­ge stelle, angestammte Verhältnisse zementieren, Pseudoprobleme eröffnen - nur um sie im nächsten Moment in einem See von Heile­Welt­-Sirup zu versenken.

Doch in den vergangenen Jahren hat sich viel getan. Die "Sie" in der Schlafzimmerszene ist Silke Bodenbender, und "Er" ist Tom Wlaschiha. Bodenbender, die regelmäßig in anspruchsvollen Sozialdramen bril­liert und bei der Auswahl ihrer Rollen als ausgesprochen wählerisch gilt, Wlaschiha, der durch die Serie "Game of Thrones" treue Fans auf dem ganzen Planeten hat und auf Filmsets zu Hause ist, die zehnmal so viel kosten wie "Eltern lügen besser".

Früher warnte TV SPIELFILM immer wieder vor den teils unterirdischen Freitag­abendschmonzetten wie "Wo das Glück beginnt" mit Hansi Hinterseer (unser Fazit: "Da, wo das Grauen nie aufhört") oder "Alle Sehnsucht dieser Erde" mit Christine Neu­bauer, dem der Filmredakteur beschied: "Sehnsüchtig erwartet: das Ende dieses Films". Das Fazit zum aktuellen Freitagabendvergnügen "Mein Sohn, der Klugschei­ ßer" lautet hingegen: "Mit Herz, Witz und Schnauze - die möchte man alle adoptieren".
Was ist geschehen?
Der schlechte Ruf der alten Filmfabrik rührt von einer Geschäftspolitik her, die um die Jahrtausendwende eingeführt wurde. Da­mals setzte sich auch beim gebührenfinan­zierten Ersten die Quote als entscheidendes Qualitätskriterium durch. Die Privatsender scharten ein immer größeres Publikum um sich, bei den öffentlich-rechtlichen wuchs die Angst, irgendwann nicht mehr schlüssig be­gründen zu können, warum die Gemein­ schaft für ihr Programm Geld zahlen soll. Wenn es doch nur wenige einschalten? Es mussten also wieder viele einschalten.

In der Folge wurde die Degeto beauftragt, insbesondere Filme zu liefern, deren Handlung man leicht folgen kann, die attraktive Drehorte bieten und nicht mit dramaturgischen Finessen verwirren. Ergebnis waren etwa die Filme der Reihe "Das Traumhotel" um Hoteldirektor Christian Kohlund, der in der Folge "Sterne über Thailand" Luxus­hotels in Asien überprüft. TV SPIELFILM: "Exotische Tapete vor riesigen Hohlräumen".

Filme mit der Antiquiertheit von Urlaubs-Dia-Abenden, adressiert an das ältere Publikum, das mit harmonisch­-geschmackvoller und tempogedrosselter Fernsehunterhaltung der 60er­ und 70er­-Jahre sozialisiert wurde. Und tatsächlich gingen die Quoten nach oben. Christine Neubauer wurde im Rahmen dieser Schmalzoffensive mit bis zu 170 Drehtagen im Jahr zur meistbeschäftigten Schauspielerin im deutschen Fernsehen. "Gestohlenes Mutterglück", "Afrika im Herzen", "Alle Sehnsucht dieser Erde" - 2010, am Ende der Neubauer­-Film­-Dekade, lag ihr Output bei rund hundert Titeln. Und in keinem einzigen spielte sie die Böse.
Misswirtschaft und die Folgen
Doch dann schwanden die Quoten wieder. Innovative US-­Serien mit moderneren Erzählformen, differenzierten Storys und Charakteren kamen auf und spiegelten die veränderte Ansprüche des Publikums wider. In den ARD­-Aufsichtsgremien fiel zudem auf, dass Degeto­ Geschäftsführer Hans­-Wolfgang Jurgan sein Budget weit überzogen hatte. Er hatte bereits für die kommenden drei Jahre Produktionsaufträge vergeben und Zusagen gemacht.

Was genau versprochen wurde und aus welchen Gründen, war zunächst unklar. Intern sprach man in der ARD von einer "Programmhalde". 2011 wurde der Quotenkönig, der Dreh­arbeiten an exotischen Sandstränden gern persönlich überwachte, entlassen. Es seien "gravierende organisatorische Mängel" zu­ tage getreten, "das notwendige Vertrauens­verhältnis" sei nicht mehr gegeben, ließ die ARD verlautbaren.

Die Folgen für die Filmwirtschaft waren fatal. Etliche TV-­Projekte, die Produktions­firmen auf eine Zusage Jurgans hin begonnen hatten, wurden nun gestoppt. Der Ruf der Degeto, den die ARD stets mit Vorzeige­projekten wie "Im Angesicht des Verbre­chens" oder "Das weiße Band" zu retten ersuchte, war endgültig ruiniert.

Der BFV, die Filmschaffendenabteilung der Gewerkschaft Verdi, brachte es 2011 in einem Brandbrief auf den Punkt: "Jeder Filmschaffende, ob Schauspieler, Autor, Regisseur oder Kameramann, kennt das Dilemma: Keiner würde von sich behaupten, er wäre stolz, an einem Degeto­-Projekt mitzuarbeiten."
Der schwere Neuanfang
In dieser Situation trat 2012 Christine Strobl, Tochter von Finanzminister Wolfgang Schäuble, die schwierige Position als Geschäftsführerin der Degeto an. Zusammen mit Sascha Schwingel, der vorher für die UFA Fiction Spielfilme produzierte, setzte sie eine Qualitätsoffensive bei Deutschlands mäch­tigster Produktionsfirma durch.

Auch wenn in den vergangenen Jahren hin und wieder ein Film alter Mach­art aus Jurgans "Programmhalde" gesendet wurde - grundsätzlich sind die Degeto­-Filme neuerer Produktion besser geschrieben, ha­ben lebensechtere Figuren und setzen eher auf die Abbildung gesellschaftlicher Realität als auf Traumstrand­-Eskapismus. Sendefähig - und erfolgreich - sind plötz­lich auch Themen wie Transgender ("Mein Sohn Helen"), Flüchtlinge ("Der Hafen­pastor") oder auch Guerilla Gardening ("Im­mer Ärger mit Opa Charly").

Das sind immer noch Unterhaltungsfilme, keine tiefgründigen Dramen. Aber eben Unterhaltungsfilme, die ihr Publikum ernst nehmen.
Die tiefgründigen Dramen werden auch noch produziert. Zur Ausstrahlung kommen demnächst "Terror" nach Ferdinand von Schirachs Theaterstück (17.10.) und "Zielfahnder" (19.11.) von Dominik Graf. In Arbeit ist auch die aufwendige Tom­ Tykwer­-Serie "Babylon Berlin", die die Degeto co-­finanziert.

Am Set von "Eltern lügen besser" hat Silke Bodenbender eine Drehpause. Sie spielt zum ersten Mal in einer Degeto­-Komödie mit. Wa­rum? Ein besonderer Grund fällt ihr dazu nicht ein. Anscheinend hätten die Drehbücher sie bisher nicht interessiert. Jetzt offen­bar schon. Das ist doch schön.

Frank Aures