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Eurovision Song Contest 2018: Kaum Rosinen im Einheitsbrei

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Interessant auch für Hörende: Eine Dolmetscherin übersetzt die Musik des Wettbewerbs in Gebärdensprache.

Ein musikalisches Gourmet-Festival war der ESC noch nie. Und doch: Angesichts der diesjährigen Teilnehmerriege drängt sich die Frage auf, ob Europa wirklich nichts Besseres zu bieten hat. Großbritannien setzt mit einem faden Cocktail aus Schlagersingsang, "Don't give up!"-Pathos und Mitklatsch-Stumpfsinn einmal mehr seinen guten Ruf als Mutterland des Pop aufs Spiel. Island rekrutierte seinen Teilnehmer leider nicht in Reykjavíks reichhaltiger Musikszene, sondern aus der Castingshow-Hölle: Das Wabbel-Vibrato des 19-jäh­rigen Schmalzbubis Ari Ólafsson löst an Empfindungen allenfalls Seekrankheit aus. Überhaupt: Fast alle teilnehmenden Länder sind im 08/15-Radio-Pop-Zug unterwegs, der entweder mit ­David Guetta in Richtung Großraumdisco (Australien, Aserbaidschan, Zypern, Finnland, Bulgarien, Russland, San Marino) stampft - oder im "High School Musical" strandet (Mazedonien, Ukra­ine, Estland). Immerhin: Einige wenige Acts stechen dann doch heraus: die beth-dittoeske Netta aus Israel zum Beispiel. Man muss vor ihrem stilistisch überladenen Song und ihrer exaltierten Mundakrobatik nicht niederknien, aber sie sorgen zumindest für Abwechslung - und reelle Siegchancen. Aus dem Rahmen fallen auch die Ungarn: Sie schicken die Nu-Metal-Band AWS nach Lissabon, die sich zudem die Extravaganz erlaubt, in Muttersprache zu singen - Linkin Park auf Magyarisch quasi. Für Lettland intoniert Laura Rizzotto "Funny Girl", das melodisch zwar keine Mauern einreißt, mit seinem R&B-Sound à la The Weeknd aber fast schon State of the Art ist. Die symphonisch-soulige Nummer der Sängerin Sennek aus Belgien weckt ­Musikfans mit dramatischer Bond-Song-Harmonik aus dem ESC-Dämmer. "A Matter of Time" sollte es unter die besten zehn schaffen. Und der Deutsche Michael ­Schulte? Nun ja... Für ihn und ­seine Klimperballade "You Let Me Walk Alone" gilt: Wer nicht weiter auffällt, kann auch nicht unangenehm auffallen. Damit hat er einigen seiner Vorgänger schon mal etwas voraus.
Foto: dpa, Die Dolmetscherin in Action
Eurovision Song Contest? Jein? Sie sind sich angesichts des einheitlichen Popbreis in diesem Jahr noch nicht sicher, ob Sie einschalten sollen? Sehen Sie sich den Wett­bewerb doch mal im Internet an! Auf eurovision.de übersetzt Laura M. Schwengber die Lieder in Gebärdensprache - ihre ausdrucksstarke Interpretation ist auch für Hörende mitreißend. Das Besondere: Nicht nur die Texte werden übersetzt, auch die Musik selbst ist in einer Mischung aus Gebärden, Mimik und Tanz zu sehen.

Die Initialzündung für dieses neuartige Angebot lieferte der NDR. "Der Sender wollte 2011 zum Tag der Gehörlosen Musik­clips übersetzen und fand einfach keinen Dolmetscher", erinnert sich Schwengber. "Eine Kommilitonin hatte in einem Seminar gesehen, wie ich Musik gebärdet habe, und empfahl mich." Das Job­angebot des NDR überraschte die damals 21-Jährige. Sie stand ihm skeptisch gegenüber, schließlich war sie noch Studentin und hatte kaum Berufserfahrung. "Aber als wir nach zwei Wochen bereits 100 000 Klicks gesammelt hatten, wussten wir: Das funktioniert."

In den Wochen vor dem großen Showeinsatz laufen die ESC-Titel bei Schwengber in Dauerschleife. Sie lernt Texte auswendig, deren Sprache sie nicht kennt, übt Gebärdenabfolgen ein, teilweise abgestimmt auf die Tanzbewegungen, die sie in den Videoclips sieht. Auf diese Choreografie kann sie dann auch unter Stress immer wieder zurückfallen. Nach Möglichkeit reagiert sie aber lieber spontan auf die Beiträge. "Wenn ich beim Proben merke, es läuft, ich habe Zugang zu dem Lied, lasse ich es auch dabei, um die Songs nicht kaputt zu proben."

Schwengbers Arbeit ist anstrengend. Während andere Simultandolmetscher in Zwanzig-Minuten-Schichten arbeiten, muss sie beim Finale dreieinhalb Stunden durchhalten. "Ich gehe jeden zweiten Tag ins Fitnessstudio", sagt sie. Größte Aufmerksamkeit gilt dabei den besonders beanspruchten Handgelenken. Viele Gebärdendolmetscher kämpfen mit oftmals langwierigen Sehnenscheidenentzündungen.

Favoriten unter den Interpreten zu haben erlaubt sich die 28-Jährige im Vorfeld nicht. "Ich habe die Befürchtung, dass ich meine Lieblingslieder unbemerkt ‚schöner‘ dolmetschen würde als die anderen", sagt sie. "Das steht mir aber nicht zu. Das taube Publikum soll genauso neutral abstimmen können wie das hörende."

Für Gehörlose können ihre Darbietungen ein Kulturgewinn sein, eine Brücke in eine Kunstform, die ihnen sonst verschlossen ist, auch wenn sie über moderne Hörprothesen akustische Signale wahrzunehmen vermögen. Die Emotionalität und den Nuancenreichtum von Musik können diese nicht übermitteln.

Schwengbers geschmeidiger Übersetzungstanz im Fernsehen und auf Konzertbühnen hat bundesweit Eindruck gemacht. "Das Interesse der Musikbranche ist so groß, dass ich nicht alles abdecken kann." Noch ist Schwengber einzigartig, doch der Nachwuchs formiert sich. "Mir schreiben Studenten, dass sie ihr Dolmetschstudium begonnen haben, weil sie Videoclips von mir gesehen haben", sagt Schwengber. "Ich ­­gebe immer mehr Workshops." Briefe erhält sie auch von hörenden Eltern, die ihre tauben Kinder bisher mit einer Hörprothese ausreichend versorgt fanden - und nun Gebärdensprache lernen. Schwengbers Performance machte klar, wie viel mehr Information und Emotion durch diese Sprache vermittelt werden kann. Noch eine Brücke geschlagen.

Für Hörende ist es immer wieder interessant zu sehen, welcher Teil des Ganzen in einer Gebärde dargestellt wird. Und wie erfrischend direkt die Zuweisungen sind. Bundeskanzlerin Angela Merkel beispielsweise wurde jahrelang dadurch dargestellt, dass man sich mit dem Finger nach unten geneigte Mundwinkel auf die Lippen malte - mittlerweile formt man die Finger zur "Merkel-Raute". Für Barack Obama legt man die Hände Dumbo-artig hinter die Ohren... Einblicke in ein anderes System der Wahrnehmung. Anders ist bereichernd. Das könnten sich auch die ESC-Kompo­nisten mal wieder zum Motto machen.