Wer kennt sie nicht, die vielfach bemühten Zeilen Hermann Hesses: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben." Aber gilt so ein Zauber gleichzeitig für das Ende? Den Zauber ihres Anfangs erlebte Anne Will am 16. September 2007. Ihre gleichnamige Talk-Runde hat sie 553 Sendungen lang moderiert – insgesamt hat sie in der ARD so lange am Sonntagabend regiert wie ihr berühmtester Gast: Angela Merkel. 2015 sprach Anne Will mit der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel zum Thema Flüchtlingskrise. Dort sagte Merkel nach mehrmaligem Nachfragen Wills ihren berühmten Satz "Wir schaffen das". Er wurde nach Wills Sendung zum Symbol der Krise.
"Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?"
In ihrer letzten Sendung trägt Will komplett Schwarz. Die Redaktion hat sich ein großes, ein allumfassendes Thema gesucht. Es lautet: "Die Welt in Unordnung – Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?" Den emotionalen Part an diesem Abend hat eindeutig Robert Habeck, grüner Vizekanzler. "Wir sitzen hier im gut geheizten Studio, während Menschen in der Ukraine im Schützengraben sterben." Er schiebt nach: "Sie jetzt hängenzulassen, das ist ehrlos." Weil an diesem letzten Will-Abend vieles auf der Meta-Ebene verhandelt werden soll, hat man den Schriftsteller Navid Kermani eingeladen. "Der Westen lässt die Ukraine verbluten." Er zetert über Europa. Robert Habeck setzt seinen Punkt: "Eine wohlige Naivität können wir uns nicht mehr leisten. Wir müssen mehr tun, um die Ukraine zu unterstützen. Das darf nicht weggewischt werden, nur weil es länger dauert."
Wenig Konkretes bei "Anne Will"
Wie gesagt, es geht um Großes, um Staatstragendes. Deswegen ist Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, eingeladen. Er hebt zu einer langen historischen Einordnung an. Das ist vor allem eines: mühsam. Was hilfreich wäre? Stattdessen Menschen einzuladen, die sich nicht so gerne selber beim Reden zuhören. Auch der Satz "Ich hab‘ keine Lösung" sind nicht wirklich hilfreich in einer Talk-Show. Ebenso nicht Gross‘ Einwurf: "Da müsste man auf dem Mond leben, um es aus diesem Abstand betrachten zu können." Florence Gaub, Politikwissenschaftlerin, sieht eine neue Weltordnung seitens Russlands und China. Auch da hören wir wenig Konkretes, außer dass sich Kraftzentren verschieben würden.
Habeck: "Mit der Hamas wird es keinen Frieden geben."
Rasch weiter zu Israel und der Hamas. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck windet sich. "Mit der Hamas wird es keinen Frieden geben." Expertin Florence Gaub sieht Chancen durch neue Regierungen auf beiden Seiten. Was sie – sehr irritierend – nicht so gut beherrscht: den Namen des französischen Präsidenten Macron korrekt auszusprechen. Es geht noch flugs um den deutschen Haushalt. "Wir werden Schritt für Schritt analysieren", weicht Robert Habeck aus. Sparen klingt an. "Können wir das konkret machen?", versucht es Anne Will. "Ich werde das heute Abend nicht konkret machen", retourniert der Vizekanzler. Also auch in diesem Punkt haben wir nichts Neues erfahren. Kann es sein, dass man sich über den Haushalt in der Ampel nicht einigt? "Ich bin erschüttert, dass Sie nicht sagen, dass es klappt", geht Anne Will den Bundesminister Habeck an. "Das haben Sie jetzt verdreht. Ich bin optimistisch", versichert Habeck. Das tönt eher halbherzig.
Caren Miosga übernimmt den Sendeplatz
Natürlich hatte der Dichter Hermann Hesse in seinem Gedicht "Stufen" auch einen Schlussappell parat: "Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…Wohlan denn, Herz, nimm‘ Abschied und gesunde!" "Mir war das eine Freude", sagt Anne Will in der letzten Sendung. "Auch wenn das jetzt pathetisch klingt: Es war mir eine Ehre!" In der ARD übernimmt im neuen Jahr Caren Miosga auf diesem Sendeplatz. Freuen wir uns auf den Zauber des Neuanfangs. Dem Alten muss nach diesem Schlussabend niemand eine Träne nachweinen.