Hollywood liebt seine Prequels. Prequels sind Fortsetzungen oder Ableger, die die Vorgeschichte zum vorherigen Original erzählen. Man denke an die "Star Wars"-Trilogie von 1999 bis 2005, die vom jungen Anakin Skywalker aka Darth Vader erzählte, an die "Hobbit"-Filme, die vor "Der Herr der Ringe" angesiedelt waren oder im Serienbereich zuletzt an den Fantasy-Hit "House of the Dragon", die Vorgeschichte zum Hause Targaryen aus "Game of Thrones".
Ein solches Prequel hat jetzt auch "Bridgerton" bekommen. Die erfolgreiche Adelsserie, die bei Netflix in zwei Staffeln zum Mega-Hit avancierte, wird in Zukunft noch normal fortgesetzt werden. Bis dahin gibt es jetzt "Königin Charlotte: Eine Bridgerton-Geschichte", in der der Aufstieg von Königin Charlotte zur Macht in sechs Folgen gezeigt wird. Damit ist dieses Prequel etwa 50 Jahre vor dem Original angesiedelt. Ein willkommener Schritt, denn so gut wie in diesem Ableger war "Bridgerton" noch nie.
Historische Diversität und eine Schwarze Königin als Wegbereiterin
Was "Bridgerton" als Serienkosmos auszeichnet, ist die zentrale Frau hinter den Kulissen: Shonda Rhimes. Das Genie, das schon "Grey's Anatomy" und "Scandal" erfand, vereinte in der Adaption der Liebesromane von Julia Quinn all ihre Stärken: "Bridgerton" ist – anders als man erst denken könnte – kein zeitgeistiger Jane-Austen-Klon mit viel "Sinn und Sinnlichkeit", sondern eine große Seifenoper, die aber mit moderner progressiver Sensibilität erzählt wird. Die Geschlechterrollen werden so ahistorisch aufgebrochen (meist haben in "Bridgerton" die Frauen in Beziehungen das Sagen), genauso zeichnete sich die Serie durch ein "farbenblindes" Casting aus, wie es oft bezeichnet wurde. Unabhängig von Herkunft und Ethnie wurden die Darsteller auf literarische und historische Figuren besetzt. Der Lord oder die Lady konnten so im 18. Jahrhundert plötzlich Schwarze Menschen sein, ohne das dies thematisiert wurde.
Diese diverse Besetzung war sowohl Trumpf der Serie als auch häufiger Kritikpunkt. Einerseits ermöglichte sie so Schwarzen Darstellern, sich in Rollen zu zeigen, die sie anderswo nie bekommen würden – Historienfilme sind eben ursprünglich ein nahezu ausschließlich weißes Genre. Andererseits wurde häufig kritisiert, "Bridgerton" ignoriere so die rassistischen und kolonialistischen Dimensionen des britischen Adels. "Königin Charlotte" grätscht genau da rein. Die Serie erzählt von der erst 17-jährigen Charlotte (India Amarteifio) aus Preußen, die mit dem ihr zu dem Zeitpunkt unbekannten und frisch gekrönten König George III. (Corey MyIchreest) verheiratet wird. Anders als in der Realität ist sie im "Bridgerton"-Kosmos eine Schwarze Frau und wird zur ersten Schwarzen Königin Englands – und bereitet so den Weg zu der Parallelwelt, die wir aus "Bridgerton" kennen.
Was "Königin Charlotte" zum "Bridgerton"-Highlight macht
Es ist ein kluger Schachzug, in "Königin Charlotte" zu erzählen, wie es zur der diversen Adelsgesellschaft in "Bridgerton" kam – und die große Überraschung ist, dass die Serie sich dieses Mal dem Thema Rassismus tatsächlich annimmt, statt es einfach auszusparen. Charlottes Ankunft in England wird in der Serie zum Anlass für das "große Experiment", wie es die Höflinge nennen. Ausgewählte Schwarze Personen erhalten plötzlich Titel, Ländereien und Privilegien – um zu zeigen, dass auch sie, so wie "ihre" Königin Charlotte, adelig sein können. Während die Diversität in "Bridgerton" nur als optisches Merkmal auffiel, aber inhaltlich keinerlei Thematisierung fand, ist "Königin Charlotte" eine (im positiven Sinne naive) Serie über das Entstehen einer Utopie: Es geht um den Konflikt mit eigenen Vorurteilen, um das Aufbrechen von strengen Gesellschaftsstrukturen. "Bridgerton" sah progressiv aus. "Königin Charlotte" ist progressiv.
Natürlich vermisst man auch in "Königin Charlotte" all das nicht, was man von "Bridgerton" erwartet – der großartige Look in üppig-protzigen Kulissen kehrt genauso zurück wie die manchmal etwas groschenroman-lastigen Romanzen. Mit der erzwungenen Vermählung von Charlotte und George III. gibt es im Zentrum ein royales Paar, das sich liebt, neckt und aneinander verzweifelt. Gerade die erste Staffel von "Bridgerton" zeigte viel expliziten, ästhetischen Sex und in "Königin Charlotte" gibt es davon sogar noch weitaus mehr zu sehen. Die Chemie zwischen India Amarteifio und Corey MyIchreest ist hervorragend – und da es sich hier um eine arrangierte Ehe handelt, weben Shonda Rhimes und ihre Autoren kluge Dialoge rund um körperliche Autonomie, weibliche Selbstbestimmung und das Wunder des "Begehrens" ein. Und im Zusammenhang mit König George wird auch auf dessen psychische Erkrankung eingegangen – all das gelingt "Queen Charlotte", ohne dass der Seifenoper-Charme je darunter leidet. Eine beachtliche Leistung.
Wer bislang mit "Bridgerton" nicht viel anfangen konnte, weil es einem zu überbordend kitschig, zu ausschweifend romantisch, zu sehr historisch verklärend und manchmal auch zu arg bloß "Sex & Pomp" ist, der wird auch mit "Königin Charlotte" nicht glücklich. Aber "Bridgerton" war bei Netflix von Beginn an der Versuch, ein konservatives Genre zu reformieren, ohne es völlig aufbrechen zu müssen. Mit "Königin" wurde dieses Potenzial zum ersten Mal vollumfänglich genutzt.
So zeigen Prequels mit diesem Format wieder, warum sie ein echter Gewinn sein können. Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen, um Fortschritte zu machen. In diesem Sinne: Lang lebe die Königin!
"Königin Charlotte: Eine Bridgerton-Geschichte" ist seit dem 4. Mai 2023 bei Netflix verfügbar.