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Das neue "Chernobyl"? Ob sich die Netflix-Serie "The Days" wirklich lohnt

Meinung | Für viele gilt "Chernobyl" als eine der besten Serien aller Zeiten. Jetzt hat sich Netflix einer anderen Atomkatastrophe angenommen: "The Days" erzählt vom Fukushima-Unglück. Unser Redakteur Michael Hille verrät, ob die Serie dem Vergleich mit "Chernobyl" standhält.

Mit "Chernobyl" gelang 2019 überraschend eine absolute Seriensensation. In fünf beklemmend-mitreißenden Episoden wurde die damalige Reaktorkatastrophe nacherzählt. Kritiker sprachen schnell von einer der besten Serien aller Zeiten, auch das Publikum sorgte für fantastische Quoten und exzellente Online-Bewertungen. Kein Wunder also, dass nur vier Jahre später die andere große Reaktorkatastrophe der vergangenen vierzig Jahre ihre Serienadaption erhält: "The Days" bei Netflix widmet sich dem Super-GAU in Fukushima aus dem März 2011.

Ein Erdbeben der Stärke 9.0 erschütterte am 11. März die Küste Japans, ein 15 Meter hoher Tsunami folgte kurz darauf und überschwemmte das Kernkraftwerk von Fukushima. Vier der sechs Reaktorblöcke wurden beschädigt. In dreien kam es kurz darauf zu Kernschmelzen. Es war eine große Tragödie, und es ist famoses Material für Hochspannungsfernsehen. Aber ist Netflix mit "The Days" ein unter die Haut gehendes Drama geglückt? Oder laufen die Vergleiche mit "Chernobyl" ins Leere?

The Days: Netflix zeigt das Trauma einer Nation

Foto: Netflix, Szenen wie diese sieht man viele in "The Days": Panische Telefonanrufe in Strahlenschutzanzügen.

Acht Episoden mit einer Laufzeit von im Schnitt 55 Minuten ist "The Days" lang und erzählt die Geschehnisse in Fukushima über einen Zeitraum von sieben Tagen aus verschiedenen Perspektiven: Gezeigt werden zum Beispiel die Kraftwerkmitarbeitenden im Kontrollraum des AKWs, wie sie, angeleitet durch Stationsleiter Masao Yoshida (Koji Yakusho), alles Menschenmögliche unternehmen, um eine Explosion zu verhindern. Parallel steht der Premierminister Naoto Kan (Fumiyo Kohinata) unter enormen Druck. Von allen Seiten prasseln Meinungen von Experten und solchen, die sich dafürhalten, auf ihn ein, und er ist – verständlich – völlig überfordert.

"The Days" zieht seine Stärken daraus, dem nationalen japanischen Nukleartrauma auf den Zahn zu fühlen. Japan ist schließlich das einzige Land, gegen das je Atombomben eingesetzt wurden, und die Katastrophe in Fukushima reißt schnell Wunden auf, weckt die schmerzhaften Erinnerungen an Nagasaki und Hiroshima. Großartig gelingt es den Regisseuren Masaki Nishirua und Hideo Nakata (letzterer war verantwortlich für die japanischen Originale der "Ring"-Horrorreihe), Bilder des Schreckens zu inszenieren. Die Zerstörungskraft des anfänglichen Tsunamis etwa ist hervorragend eingefangen, und ihre Kamera fährt oft ganz nah ran an die vollkommen überarbeiteten, bis ins Mark erschütterten Kraftwerkmitarbeitenden, als wolle sie direkt ihre gepeinigten Seelen abfilmen.

Das Unglück von Fukushima als persönliches Drama

Foto: Netflix, In "The Days" stehen alle unter Druck. Die Katastrophe von Fukushima bedrohte das Leben von Abermillionen Menschen.

Es ist vor allem Koji Yakusho, der nach diesen acht Episoden im Gedächtnis bleibt. Er ist es, der dem umfassenden Schrecken der Fukushima-Katastrophe ein persönliches Gesicht verleiht. Sensationell spielt er diesen anfangs noch fröhlichen und gut gelaunten Mann, der sich im Verlauf der Folgen zu einem aggressiven, verängstigten und stacheligen Hitzkopf wandelt, der durchgängig auf dem Zahnfleisch läuft. In 80 Stunden hat er vielleicht zwei davon geschlafen, und durch sein Handeln schon einige Katastrophen abgewendet, aber immer noch viele potenzielle Desaster vor sich. Es war klug, Fukushima durch ihm ein Gesicht zu verleihen. Gleichzeitig aber ist der Verlauf seiner Geschichte auch exemplarisch dafür, woran "The Days" scheitert. Die Serie zeigt ein großes Drama. Aber sie ist kein großes Drama. Leider.

Mag es anfangs noch tief berühren, wenn Menschen sich mutig in Schutzanzüge werfen und zum Wohle aller in den sicheren Tod laufen, nutzen sich die Szenarien in "The Days" zu schnell ab, weil sie sich inhaltlich wiederholen. Irgendwann ist kaum noch klar, welche Figuren es jetzt wieder sind, die sich bereitwillig opfern – einfach, weil es schon so viele vor ihnen getan haben. "The Days" ist zu arg mit Pflichterfüllungen beschäftigt: Jedes Detail dieser entscheidenden Tage muss erzählt werden, jedes Beinahe-Unglück braucht seine vollumfängliche Aufarbeitung. Dadurch aber fehlt es an einem konsequenten Spannungsbogen. Den erzählerischen Kern verliert das Drehbuch aus den Augen, weil es mehr mit Zahlen von Messgeräten als mit seinen Figuren beschäftigt ist.

Was "Chernobyl" besser machte als "The Days"

Und hier muss er kommen, der Vergleich zur meisterhaften "Chernobyl"-Serie. Auch die bemühte sich, so viele wahre Fakten wie irgend möglich unterzubringen, setzte diese aber nie als Selbstzweck ein, sondern zur Verdeutlichung der eigentlichen Erzählung. "Chernobyl" war mehr als nur schick gefilmtes und gut gespieltes Katastrophenfernsehen. Der Super-GAU in der heutigen Ukraine diente auch als kritische Auseinandersetzung mit dem System der damaligen Sowjetunion. Die Serie zeigte, wie die damalige Führungsriege aus Stolz und dem eigenen Selbstverständnis heraus die Katastrophe zu vertuschen versuchte.

"Chernobyl" war historisches Fernsehen, aber immer auch Systemkritik. Es ging um ein Nukleardesaster, doch der wahre Schrecken rührte daher, dass eine ganze Nation die Welt lieber belügen würde, als sie vor tödlicher Strahlung zu warnen. Diese Ebene hat "The Days" nicht. Stattdessen verfällt gerade der Plot rund um den Premierminister eher in Lobhudelei, es soll gezeigt und gewürdigt werden, wie souverän Naoto Kan trotz aller Widerstände die Krise meisterte. Das mag ehrenwert sein, ist im Vergleich aber die schwächere Geschichte.

Der wahre Schrecken von "The Days" liegt leider nicht in den Szenen und Bildern dieser Serie verborgen. Dafür muss man stattdessen in die aktuellen Nachrichten sehen, die gerade über die nukleare Zukunft Japans berichten. Während Deutschland nur drei Monate nach dem Reaktorunglück den Ausstieg aus der Atomenergie beschloss (abgeschlossen wurde dieser zwölf Jahre später), verabschiedete Japan am 31. Mai 2023 ein neues Gesetz, welches die Verlängerung der Laufzeiten bestehender Atomreaktoren auf unbegrenzte Zeit ermöglicht – trotz starken Widerspruchs aus der eigenen Bevölkerung. So soll der CO2-Ausstoß des Landes bis 2050 auf null gebracht werden.

"The Days" ist seit dem 1. Juni 2023 bei Netflix verfügbar.