Es gibt sehr viele gute Serien, die nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie eigentlich verdienen. "Atlanta" ist eine davon. Zwar räumte die Serie von und mit Donald Glover ein paar Preise (u.a. Golden Globe) ab und wurde von der Kritik mit Lob nur so überhäuft. Doch zum Publikumshit wurde sie nie, selbst nicht in den USA. Und in Deutschland ist "Atlanta" komplett unbekannt. Selbst bei Disney+, wo nun alle vier Staffeln verfügbar sind, wird dieser Geniestreich überhaupt nicht beworben.
Warum das so ist, ist mir völlig schleierhaft. Zählt "Atlanta" doch zu einer der aktuellsten, witzigsten, komplexesten, wichtigsten und damit besten Serien der letzten Jahre.
Darum geht's in "Atlanta"
Zentrum der Handlung von "Atlanta" ist Earn (Donald Glover). Der hat ein Studium an der Elite-Universität Princeton abgebrochen und ist in seine Heimatstadt Atlanta, im US-Bundesstaat Georgia, zurückgekehrt. Dort hält er sich nun mit Gelegenheitsjobs über Wasser, um die Miete zahlen und seine On-Off-Freundin Van (Zazie Beetz) sowie Töchterchen Lotti durchbringen zu können.
Doch dann sieht Earn eine Möglichkeit, seine Geldsorgen in den Griff zu kriegen. Sein Cousin Alfred (Brian Tyree Henry) steht als Rapper Paper Boi kurz vor dem Durchbruch. Und Earn glaubt zu wissen, wie er ihn als Manager zum Superstar machen kann. Also heftet er sich an dessen Fersen. Fortan erleben sie gemeinsam mit Paper Bois dauerbekifften Kumpel Darius (Lakeith Stanfield) allerlei verrückte Abenteuer, seltsame Situationen und auch entlarvende Dramen – allesamt innerhalb der Schwarzen Community der Gegenwart.
Alles ist möglich: "Atlanta" ist vielseitig, unvorhersehbar und genial
Wer nach der kurzen Inhaltsangabe nun denkt, "Atlanta" sei wieder eine dieser Underdog-Storys, der irrt sich gewaltig. Genauso wenig ist das Magnum Opus von und mit Tausendsassa Donald Glover, der auch als Musiker Childish Gambio bekannt ist, nur eine Komödie oder eine Dramedy, wie man überall hört und liest. Denn bei "Atlanta" ist alles möglich. Anfangs in Staffel 1 mag sich "Atlanta" noch größtenteils an seiner Grundprämisse entlanghangeln und einen teils intimen Einblick in die Rap-Szene der Hauptstadt von Georgia liefern. Doch das ändert sich von Season zu Season immer mehr.
Hin und wieder gibt es sogar Folgen, in der nur eine der drei Hauptfiguren auftaucht. So findet sich Alfred in Staffel 1 beispielsweise in einer seltsamen Talkshow-Runde wieder. Später, in Season 2, verbringt er einen abenteuerlichen Tag mit seinem Friseur. Dieselbe Staffel beinhaltet dann auch die wohl legendärste Folge von "Atlanta": In Folge 6 will Darius eigentlich nur ein altes Klavier abholen. Dabei lernt er aber einen seltsamen Michael-Jackson-Verschnitt kennen, der einen dunkles Geheimnis hat. Müsste man dieser Episode einen Genre-Stempel verpassen, wäre es Horror.
Dieses Spiel mit Genres wird vor allem in Season 3 von "Atlanta" deutlich. Hier sind Alfred, Earn und Darius eigentlich auf Tour durch Europa. Dabei handeln aber vier der zehn Episoden von ganz anderen Menschen und deren Geschichten, die allesamt eine krude Mischung aus Drama und schräger Komödie sind. Und dann sitzt bei einem Drogentrip durch Amsterdam auf einmal Liam Neeson an der Bar und schwafelt wirres Zeug. Staffel 4 wird teilweise noch absurder, wie der Auftakt schon zeigt. Darin geht Alfred auf eine verrückte Schnitzeljagd eines toten Rappers, Darius wird derweil von einer Frau im Rollstuhl verfolgt und Earn ist zusammen mit Van in einer Mall in einer Art Zeitschleife gefangen. Ein paar Episoden später spielt dann plötzlich der "Crack-Dat-Killer" (Thriller!) und ein kontrollsüchtiger Filmproduzent (Satire!) wichtige Rollen. Und eine Fake-Doku über einen Schwarzen Disney-CEO gibt es gegen Ende auch noch.
Das mag zunächst alles sehr wirr anmuten. Und das ist es auch, wenn man sich nicht darauf einlässt. Vielmehr muss man jede Episode von "Atlanta" als einen in sich geschlossenen Kurzfilm begreifen. Darin liegt ein Teil der Genialität dieser Serie, in seiner Vielseitigkeit und Unvorhersehbarkeit. Nebenbei verliert die Serie aber auch nie seinen thematischen Fokus aus den Augen, der trotz all der absurden Ereignisse nicht ernster, aktueller und wichtiger sein könnte.
Atlanta: Scharfsinnige Dialoge mit einer wichtigen Message
Bei "Atlanta" zieht sich nämlich ein roter Faden durch die ganze Serie. Sie behandelt immer aktuelle gesellschaftliche Konflikte oder alltägliche Probleme. Vor allem Rassismus spielt in "Atlanta" eine große Rolle. Der begegnet den Protagonisten praktisch in jeder Folge. Ob das eine Gruppe Weißer bei einer Gartenparty ist, die allesamt Earn und Van über alles belehren. Ein Auftritt vor rassistischen College-Studenten. Eine gruselige Blackfacing-Tradition in Amsterdam. Oder eine voreingenommene Mitarbeiterin an einem Flughafen. Es gibt gar eine Folge, in der es darum geht, wann man als Schwarzer Schwarz genug ist. Wie überall auf der Welt ist Rassismus in "Atlanta" allgegenwärtig – oftmals auch subtil.
Doch damit nicht genug. Waffengewalt ist auch ein ständiges Thema der Serie. Immer wieder brechen aus dem Nichts Schießereien aus, die die Protagonisten nicht selten völlig unbeeindruckt lassen. Auch zeigt "Atlanta" die Vielfalt der Lebensrealitäten von Schwarzen in den USA. Ein stereotypisches Ghetto-Feeeling wie in thematisch ähnlichen Serien und Filmen fehlt hier gänzlich. Dennoch sind die Probleme der Schwarzen Community wie Armut und Gewalt präsent.
Vermeintliche Öko-Gutmenschen bekommen ebenfalls ihr Fett weg. Genauso wie das Showgeschäft. Man denke nur an die Folge mit den Young White Avatars – also junge Weiße, die von Schwarzen Rapper als Strohpuppen verwendet werden, um einen Grammy zu gewinnen. Es wird sich auch ständig über Weiße und Schwarze Traditionen und Manierismen lustig gemacht (s. den schrägen Oktoberfest-Verschnitt). Und selbst für Themen wie Familie, Liebe und Beziehungen findet sich in "Atlanta" Platz.
Dabei sind all diese Themen schön verpackt in scharfsinnigen Dialogen, smarten Metaphern und facettenreichen Figuren. Kritik an der Gesellschaft ist dauerpräsent, sie kommt aber nie mit erhobenem Zeigefinger daher. Vielmehr ist sie immer in einen Mantel aus Ironie gehüllt, der die Absurdität und Sinnlosigkeit der hier besprochenen Probleme, wie eben Rassismus, nur noch mehr verdeutlicht. Philosophisch, aber auch nicht zu anspruchsvoll, wird es auch oft. Teils gibt es Filme oder Szenen, über die man noch Tage nachdenken kann.
"Atlanta" ist der Erfolg nur zu wünschen
Bei dieser schieren Genialität ist es mir deshalb schleierhaft, warum "Atlanta" nie wirklich erfolgreich wurde. Ein Trostpflaster gibt es aber. Aufgrund der Serie ging es für die fantastischen Schauspieler in puncto Karriere richtig los. So war Brian Tyree Henry nach dem Start von "Atlanta" unter anderem in großen Filmen wie "Godzilla vs. Kong", "Eternals" und "Bullet Train" zu sehen. Für das Drama "Causeway" ist er sogar für einen Oscar nominiert worden. Lakeith Stanfield feierte derweil Erfolge mit "Der Schwarze Diamant", "Knives Out" und "Judas and the Black Messiah". Für letzeren staubte auch er eine Oscar-Nominierung ab. Und Zazie Beetz mauserte sich in "Deadpool 2", "Joker" und "Bullet Train" streckenweise zum Scene-Stealer.
Und Donald Glover? Der bewies mit "Atlanta" einmal mehr, dass er einer der kreativsten Köpfe in Hollywood ist. Vielmehr zementierte die Serie seinen Ruf als Genie endgültig. Man kann ihm also nur wünschen, dass "Atlanta" im Nachhinein noch an Aufmerksamkeit gewinnt und irgendwann zu einer Kultserie wird. Das Potential dazu hat der Geniestreich auf jeden Fall.
Alle vier Staffeln von "Atlanta" sind im Abo von Disney+ verfügbar.