Die Anklage lautete: Das deutsche Fernsehen habe die Zukunft verschlafen. US-Serien seien um vieles besser. "Schuld" hat diesen Vorwurf fast im Alleingang entkräftet. Die Anwaltsserie nach Erzählungen Ferdinand von Schirachs zelebriert einen magischen Realismus, der auch international seinesgleichen sucht. Zum Auftakt der zweiten Staffel sprachen wir mit Moritz Bleibtreu. Der 46-Jährige spielt den Anwalt Friedrich Kronberg.
Als du mit "Schuld" angefangen hast, war es das erste Mal seit siebzehn Jahren, dass du fürs Fernsehen gearbeitet hast. Hat es sich gelohnt?
Moritz Bleibtreu: Auf jeden Fall. Fernsehen ist zurzeit ein enorm spannendes Medium. Wir erleben gerade einen Wandel auf mehreren Ebenen. Erzählstrukturen und Sendeformate ändern sich radikal. Das sieht man auch an "Schuld": Die erste Staffel hatte sechs Folgen, die zweite Staffel nur vier. Das wäre vor zehn Jahren unmöglich gewesen. Da hätten die Sender gefordert, erneut sechs Episoden zu drehen.
Herrscht heute beim Fernsehen die Freiheit, die man früher dem Kino nachgesagt hat?
Intelligente Geschichten gibt es in beiden Bereichen. Aber das Kino hat sich gewandelt. Ich habe den Eindruck, dass bei den zurzeit sehr erfolgreichen Superheldenfilmen weniger die Story zählt als das Merchandising.
Regisseure, die für anspruchsvolle Unterhaltung stehen, wie Volker Schlöndorff, haben große Schwierigkeiten, Geldgeber für ihre Kinoprojekte zu finden.
Das klassische Genrekino mit Niveau und komplexer Story findet heute im Fernsehen statt. Die neuen Qualitätsserien sind "character-driven". Das heißt, die Geschichten werden aus den Figuren heraus entwickelt, und das macht sie für Schauspieler interessant. Vor fünfzehn Jahren hat ja kein Schauspieler in Serien mitspielen wollen, weil jeder wusste, man langweilt sich zu Tode, wenn man drei Jahre lang denselben Arzt spielt. Das ist bei Walter White aus "Breaking Bad" anders.
"Schuld" hat eine eigene visuelle Sprache entwickelt. Warum ist das im deutschen TV so selten?
Das hat viel mit den Filmhochschulen zu tun. Schaut man sich an, was an den Hochschulen unterrichtet wird, so sind es immer noch Prinzipien, die ganz eng mit dem Autorenfilm der Siebzigerjahre verbunden sind. Seinerzeit war es rebellisch und kreativ, statt ins Studio in echte Wohnungen zu gehen und ohne künstliches Licht zu drehen, quasi ein Vorgriff auf die Dogma-Bewegung der Skandinavier Mitte der Neunziger. Heute ist dieses Filmverständnis aber oft ein Hemmnis. Sage einem Kameramann, etwas soll richtig geil aussehen, und schon fängt er eine inhaltliche Diskussion darüber an, was zum Beispiel der Zoom auf eine Brücke bedeuten soll. Die Amerikaner sagen: Die Brücke soll gar nichts bedeuten, die sieht einfach super aus. Basta.
Aber immerhin zeigt die Diskussion in Deutschland, wie wichtig den Leuten am Set ihre Arbeit ist.
Ich will das auch gar nicht abwerten. Wenn es um das Diskutieren inhaltlicher Aspekte beim Film geht, ist Deutschland wahrscheinlich Weltmeister. Aber zum Film gehört ja auch die Form, der Look. Und da bemerke ich eine eigenartige Scheu, in starken Bildern zu denken. Wir haben es einfach verlernt, eine große Show abzuziehen.
Woran liegt das?
Wir schämen uns, weil wir die großen Bilder bewusst oder unbewusst mit der Selbstinszenierung der Nazis in Zusammenhang bringen. Kleinmut produziert kleine Filme. Bernd Eichinger war da anders, er hat immer gesagt: Ich will nicht nur das deutsche Publikum, ich will die ganze Welt erreichen.
Bei US-Filmen akzeptieren wir, dass sie "bigger than life" sein wollen, bei deutschen nicht?
Ja, aber wir brauchen die Illusion und die Mystik der Größe auch bei uns. Nur so können wir Aufmerksamkeit erzeugen, den Zuschauer verblüffen und erstaunen und ihm klarmachen, was Film alles kann.
Aber wir trauen uns nicht.
Weil wir Angst vor großen Gefühlen haben?
Auch das. Schau dir das italienische und spanische Kino an, dort hat man keine Angst vor Kitsch. Das ganze Kino von Almodóvar lebt vom Umgang mit großen Gefühlen. Oder nimm Til Schweiger. Der hat schon vor zehn Jahren Polizisten in neue Uniformen gesteckt, weil ihm die echten zu hässlich waren. Der baut sich seine eigene Kinowelt. Ich finde das toll. Denn genau darum geht es beim Film, oder?
Und in den TV-Serien. Aber da erlebt man in Deutschland einen ziemlichen Eiertanz, als wolle man bloß keinen traditionellen Zuschauer verschrecken.
Es ist ja nicht so, dass die Leute, die sich jetzt an Serien nach dem Vorbild des US-Qualitätsfernsehens probieren, plötzlich mit Intelligenz geschlagen sind und wissen, wie's geht. Da regiert vielfach die pure Panik. Man hat Angst, dass das klassische Fernsehen irgendwann nicht mehr funktioniert, dass die Jungen zu den Streamingdiensten abwandern und dass die Firmen, die jetzt Werbung im Fernsehen schalten, irgendwann diese Gelder abziehen und dafür Aufmerksamkeit in den sozialen Medien kaufen.
Also sucht man nach dem großen Ding, das alle an den Bildschirm fesselt.
Ja, jetzt will man hierzulande auf Teufel komm raus etwas drehen, was anders ist, was einen Antihelden hat. So wie "Breaking Bad". Aber das geht oft schief. Wir ticken anders als die Amis. Wir sind nicht von "Miami Vice" geprägt, sondern von "Derrick".
Aber "Deutschland 83" spricht auch Amerikaner an.
Ja, und hierzulande hat das kaum einer gesehen, weil keiner, der sich für solche Serien interessiert, Bock hat auf Unterbrechungen durch Werbeblöcke und auch nicht darauf, immer eine Woche auf die nächste Folge zu warten. Wir haben deshalb bei "Schuld" von Anfang an darauf gedrängt, dass alle Folgen so schnell wie möglich in der Mediathek abrufbar sind. Das entspricht einfach dem modernen Serienkonsum. Meinem eigenen übrigens auch.
Netflix und andere Internetportale machen es vor.
Und der Erfolg gibt den Video-on-Demand-Anbietern recht. Alles läuft darauf hinaus, dass wir in Zukunft nicht mehr für das einzelne Produkt zahlen, sondern für den Provider, der uns den Zugang zu seinen Schätzen öffnet. Wenn Netflix "War Machine" mit Brad Pitt produzieren lässt, dann geht es nicht darum, dass man "War Machine" auf Netflix guckt. Es ist Netflix egal, wie viele Leute sich den Film anschauen. Was zählt, ist, dass der Glanz von Brad Pitt auf Netflix abstrahlt und dadurch noch mehr Leute Netflix abonnieren. Das ist eigentlich wie das Studiosystem der Vierziger, als die Schauspieler bei einzelnen Studios unter Vertrag waren.
Moritz Bleibtreu: Auf jeden Fall. Fernsehen ist zurzeit ein enorm spannendes Medium. Wir erleben gerade einen Wandel auf mehreren Ebenen. Erzählstrukturen und Sendeformate ändern sich radikal. Das sieht man auch an "Schuld": Die erste Staffel hatte sechs Folgen, die zweite Staffel nur vier. Das wäre vor zehn Jahren unmöglich gewesen. Da hätten die Sender gefordert, erneut sechs Episoden zu drehen.
Herrscht heute beim Fernsehen die Freiheit, die man früher dem Kino nachgesagt hat?
Intelligente Geschichten gibt es in beiden Bereichen. Aber das Kino hat sich gewandelt. Ich habe den Eindruck, dass bei den zurzeit sehr erfolgreichen Superheldenfilmen weniger die Story zählt als das Merchandising.
Regisseure, die für anspruchsvolle Unterhaltung stehen, wie Volker Schlöndorff, haben große Schwierigkeiten, Geldgeber für ihre Kinoprojekte zu finden.
Das klassische Genrekino mit Niveau und komplexer Story findet heute im Fernsehen statt. Die neuen Qualitätsserien sind "character-driven". Das heißt, die Geschichten werden aus den Figuren heraus entwickelt, und das macht sie für Schauspieler interessant. Vor fünfzehn Jahren hat ja kein Schauspieler in Serien mitspielen wollen, weil jeder wusste, man langweilt sich zu Tode, wenn man drei Jahre lang denselben Arzt spielt. Das ist bei Walter White aus "Breaking Bad" anders.
"Schuld" hat eine eigene visuelle Sprache entwickelt. Warum ist das im deutschen TV so selten?
Das hat viel mit den Filmhochschulen zu tun. Schaut man sich an, was an den Hochschulen unterrichtet wird, so sind es immer noch Prinzipien, die ganz eng mit dem Autorenfilm der Siebzigerjahre verbunden sind. Seinerzeit war es rebellisch und kreativ, statt ins Studio in echte Wohnungen zu gehen und ohne künstliches Licht zu drehen, quasi ein Vorgriff auf die Dogma-Bewegung der Skandinavier Mitte der Neunziger. Heute ist dieses Filmverständnis aber oft ein Hemmnis. Sage einem Kameramann, etwas soll richtig geil aussehen, und schon fängt er eine inhaltliche Diskussion darüber an, was zum Beispiel der Zoom auf eine Brücke bedeuten soll. Die Amerikaner sagen: Die Brücke soll gar nichts bedeuten, die sieht einfach super aus. Basta.
Aber immerhin zeigt die Diskussion in Deutschland, wie wichtig den Leuten am Set ihre Arbeit ist.
Ich will das auch gar nicht abwerten. Wenn es um das Diskutieren inhaltlicher Aspekte beim Film geht, ist Deutschland wahrscheinlich Weltmeister. Aber zum Film gehört ja auch die Form, der Look. Und da bemerke ich eine eigenartige Scheu, in starken Bildern zu denken. Wir haben es einfach verlernt, eine große Show abzuziehen.
Woran liegt das?
Wir schämen uns, weil wir die großen Bilder bewusst oder unbewusst mit der Selbstinszenierung der Nazis in Zusammenhang bringen. Kleinmut produziert kleine Filme. Bernd Eichinger war da anders, er hat immer gesagt: Ich will nicht nur das deutsche Publikum, ich will die ganze Welt erreichen.
Bei US-Filmen akzeptieren wir, dass sie "bigger than life" sein wollen, bei deutschen nicht?
Ja, aber wir brauchen die Illusion und die Mystik der Größe auch bei uns. Nur so können wir Aufmerksamkeit erzeugen, den Zuschauer verblüffen und erstaunen und ihm klarmachen, was Film alles kann.
Aber wir trauen uns nicht.
Weil wir Angst vor großen Gefühlen haben?
Auch das. Schau dir das italienische und spanische Kino an, dort hat man keine Angst vor Kitsch. Das ganze Kino von Almodóvar lebt vom Umgang mit großen Gefühlen. Oder nimm Til Schweiger. Der hat schon vor zehn Jahren Polizisten in neue Uniformen gesteckt, weil ihm die echten zu hässlich waren. Der baut sich seine eigene Kinowelt. Ich finde das toll. Denn genau darum geht es beim Film, oder?
Und in den TV-Serien. Aber da erlebt man in Deutschland einen ziemlichen Eiertanz, als wolle man bloß keinen traditionellen Zuschauer verschrecken.
Es ist ja nicht so, dass die Leute, die sich jetzt an Serien nach dem Vorbild des US-Qualitätsfernsehens probieren, plötzlich mit Intelligenz geschlagen sind und wissen, wie's geht. Da regiert vielfach die pure Panik. Man hat Angst, dass das klassische Fernsehen irgendwann nicht mehr funktioniert, dass die Jungen zu den Streamingdiensten abwandern und dass die Firmen, die jetzt Werbung im Fernsehen schalten, irgendwann diese Gelder abziehen und dafür Aufmerksamkeit in den sozialen Medien kaufen.
Also sucht man nach dem großen Ding, das alle an den Bildschirm fesselt.
Ja, jetzt will man hierzulande auf Teufel komm raus etwas drehen, was anders ist, was einen Antihelden hat. So wie "Breaking Bad". Aber das geht oft schief. Wir ticken anders als die Amis. Wir sind nicht von "Miami Vice" geprägt, sondern von "Derrick".
Aber "Deutschland 83" spricht auch Amerikaner an.
Ja, und hierzulande hat das kaum einer gesehen, weil keiner, der sich für solche Serien interessiert, Bock hat auf Unterbrechungen durch Werbeblöcke und auch nicht darauf, immer eine Woche auf die nächste Folge zu warten. Wir haben deshalb bei "Schuld" von Anfang an darauf gedrängt, dass alle Folgen so schnell wie möglich in der Mediathek abrufbar sind. Das entspricht einfach dem modernen Serienkonsum. Meinem eigenen übrigens auch.
Netflix und andere Internetportale machen es vor.
Und der Erfolg gibt den Video-on-Demand-Anbietern recht. Alles läuft darauf hinaus, dass wir in Zukunft nicht mehr für das einzelne Produkt zahlen, sondern für den Provider, der uns den Zugang zu seinen Schätzen öffnet. Wenn Netflix "War Machine" mit Brad Pitt produzieren lässt, dann geht es nicht darum, dass man "War Machine" auf Netflix guckt. Es ist Netflix egal, wie viele Leute sich den Film anschauen. Was zählt, ist, dass der Glanz von Brad Pitt auf Netflix abstrahlt und dadurch noch mehr Leute Netflix abonnieren. Das ist eigentlich wie das Studiosystem der Vierziger, als die Schauspieler bei einzelnen Studios unter Vertrag waren.