Krimi-Experten sagen gerne, dass über die Hälfte aller fiktiven Ermittler der Film-, Serien- und Romanwelt auf ihm beruhen: Sherlock Holmes ist die größte Ikone eines ganzen Genres – und ein echter Überlebenskünstler. 1886 wurde er von seinem Schöpfer, dem britischen Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle, ins Leben gerufen. 56 Kurzgeschichten und vier Romane schrieb der Meister bis 1927.
Seitdem sind Sherlock Holmes und sein Gehilfe Dr. Watson aus der Popkultur nicht mehr wegzudenken. Auch Netflix versucht sich an der Kultfigur. Doch nähern sie sich der Ikone über Randfiguren: Der Film "Enola Holmes" stellte seine (nicht von Doyle stammende) junge Schwester in den Mittelpunkt. Und die neue Serie "Die Bande aus der Baker Street" handelt von Straßenkindern, die für Dr. Watson ein paar Fälle übernehmen.
Mit Sherlock Holmes und Sir Arthur Conan Doyle hat diese neue Serie aber nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Für echte Fans ist sie ein Schlag ins Gesicht.
Die Sherlock Homies
Bis Sherlock Holmes in "Die Bande aus der Baker Street" auftaucht, dauert es die mindestens die halbe Staffel. In den ersten vier von insgesamt acht Folgen wird das kriminalistische Genie nur angedeutet. Stattdessen liegt der Fokus auf den Teens Bea, Jessie, Leopold, Spike und Billy, die auf der Straße leben (bzw. in einem Abwassersystem unter der Straße) und für Dr. Watson die Augen und Ohren offenhalten.
Die Idee hinter diesen "Irregulars", wie die Serie im Originalton heißt, gab es schon bei Doyle: In seinen Werken hatte Holmes ein Netz an Straßenkindern, die für ihn spionierten – und dabei beispielsweise in einem Pub deutlich unauffälliger waren als ein berühmter Meisterdetektiv. Bis auf das haben aber die Figuren und die Serie nicht viel mit den Originalen zu tun. Deutlich wird das schon in einer der allerersten Szenen: "Die Bande aus der Baker Street" sind nämlich keine Minidetektive, sondern jugendliche Ghostbusters, jagen Dämonen, Monster und Gespenster. Hier seht ihr den Trailer:
Horror-Gemischtwarenladen mit Rummelplatz-Effekten
Dabei ist den Autoren kein Gruselfilm-Klischee zu doof: Böse Hexen können Krähenschwärme kontrollieren, gruselige Albträume lassen Angriffe des Satans vermuten, ein Weltenriss droht das Universum auszulöschen und selbst Golems und Zombies gehören zu den Gegnern, gegen die die "Irregulars" kämpfen müssen. Inszeniert ist das reichlich trashig, wirklich gruselig sind eigentlich nur die altbackenen Geisterbahn-Effekte. Auch die Schauspielleistungen der Teens geraten arg soapig. Man wollte "Stranger Things", herausgekommen ist nur die Billig-Version von "Emil und die Detektive".
Doch eine schlecht gemachte Pseudo-Gruselserie für 12-Jährige könnte man Netflix leicht verzeihen. Leider aber hat all das hat rein gar nichts mit Sherlock Holmes zu tun. Sir Arthur Conan Doyle war die meiste Zeit seines Lebens ein überzeugter Rationalist: Er glaubte, dass der Aufbau der Welt ausschließlich nach logischen und berechenbaren Gesetzen erklärbar ist. Um die Wahrheit zu erkennen, braucht es nur den eigenen Verstand. Sherlock Holmes legte er als das Paradebeispiel eines Rationalisten an. Der berühmteste Spruch der Figur lautet nicht von ungefähr: "Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das was übrigbleibt, so unwahrscheinlich es auch wirken mag, die Wahrheit sein."
Immer wieder wurde Holmes in den Romanen mit Geistererscheinungen konfrontiert, mit vermeintlich übernatürlichen Vorkommnissen. Am bekanntesten ist wohl die Geschichte: "Der Hund der Baskervilles", in der ein monströser, heulender Hund eine Familie plagt. Doch am Ende löste sich das Mystische immer als Teil der Realität auf, als Täuschung: Der Baskerville-Hund war eine verkleidete, präparierte Mischung aus Dogge und Bluthund. Kein Monster.
Kein Respekt vor dem Original
Nicht nur waren die Auflösungen stets irdischer Natur: Sherlock Holmes selbst zog nie den Gedanken auch nur in Erwägung, übernatürliche Monster oder sonstige Erscheinungen könnten wirklich echt sein. Daraus sprach der Verstand seines Schöpfers: Doyle war Arzt, wie auch Dr. Watson, und ordnete die Welt stets wissenschaftlich ein … bis 1918 sein Sohn an der Spanischen Grippe verstarb. Die Trauer prägte ihn enorm und er begann sich für den Mystizismus und Spiritismus zu interessieren. Er glaubte sogar an die Existenz von Feen, und besuchte Geisterbeschwörungen, sogenannte Séancen.
Doch Sherlock Holmes ließ er selbst in dieser Phase nie an das Übernatürliche glauben. Warum? Weil er die Integrität seiner Figur erhalten wollte. Jetzt wird sie von billigen Nachahmern für schlecht geschriebenen Fantasymurks geopfert und geplündert, um eine miese Serie den Zuschauer zu verkaufen. Und darüber darf man sich ärgern, sogar sauer sein: Sherlock Holmes und seine Geschichten (so wie die Verfilmungen) haben ihre Anhänger gelehrt, an die Vernunft zu appellieren und sich der Komplexität weltlicher Zusammenhänge zu stellen. Stellvertretend haben auch seine geistigen Nachfolger Hercule Poirot oder Justus Jonas von den drei Fragezeichen das verkörpert.
Unterhaltung? Fehlanzeige!
Doch den Autoren hinter "Die Bande aus der Baker Street" fällt nichts Besseres ein, als eine Welt mit Monstern und Superkräften zu füllen, um sie interessant zu gestalten. Das Spektakel soll nur verdecken, wie leer und bedeutungslos die Figuren sind, wie wenig die Macher zu sagen haben. Und dann ist das Spektakel auch noch unter handwerklichen Gesichtspunkten eine Katastrophe. Als Holmes dann in Folge 5 endlich auftaucht, geben sich die "Irregulars" komplett der Lächerlichkeit Preis: Statt Detektivgeschichten, schließt sich der emotional instabile, weinerliche Holmes den jungen Geisterjägern in seelenlosen Actionszenen an.
Warum heißt es Unterhaltung? Unterhaltung ist ein interaktiver Prozess. Künstler setzen uns ein Werk vor, und wir setzen uns mit dem Werk auseinander. Sherlock Holmes hat über 120 Jahre dazu angeregt, sich mit uns und unserer Umwelt auseinander zu setzen. "Die Bande aus der Baker Street" ist bloß Ablenkung von der Wirklichkeit, lärmend und nervtötend. Eine Mogelpackung, für die Netflix sich schämen sollte.