Wenn es darum geht, die Geburtsstunde des goldenen Serienzeitalters zu identifizieren, wird gern auf "Twin Peaks" verwiesen. 1990 revolutionierte David Lynch mit seiner Mystery den Look und die Erzählstrukturen, die wir bis dahin von Fernsehserien gewohnt waren. Bis heute lassen sich in vielen Serien noch Einflüsse von "Twin Peaks" entdecken. Doch die größten Umwälzungen finden nicht unbedingt vor unseren Augen statt. Was hinter den Kulissen geschieht, ist oft bedeutender als das, was über den Bildschirm flimmert. Und während "Twin Peaks" für Lynch und seine Autoren ein mehr oder weniger einmaliger Ausflug in die TV-Landschaft blieb, legte zwei Jahre später eine andere Serie die Grundlage für 25 Jahre hochwertiges serielles Fernsehen: "Akte X".

Deren Showrunner Chris Carter war anders als David Lynch nicht als Autorengenie bekannt, und er hatte auch nicht eine Teenagersoap in der Tasche, die die Senderchefs von ihm wollten, er kam mit dem Konzept für "Akte X" um die Ecke. Was Carter an Genialität fehlte, macht er wett durch die unnachahmliche Fähigkeit, Talente zu entdecken und zu fördern. Unter Carters Ägide blühte ein knappes Dutzend an Schreibern auf, die in den letzten Jahren für einige der wegweisenden Serien gesorgt haben - allen voran "Breaking Bad"-Oberhaupt Vince Gilligan.

"Breaking Bad" als "Akte X"-Reunion

"Alles, was wir in ,Breaking Bad‘ machen, habe ich bei ,Akte X‘ gelernt", erklärte Gilligan kürzlich den Einfluss, den die Serie auf seine Karriere gehabt hat. Wie in nahezu jedem Writer's Room steht auch bei Gilligan eine riesige Tafel, auf der die einzelnen Episoden anhand von Karteikarten in fünf Akte strukturiert werden. Was heute gängige Praxis ist, war 1992 völlig neuartig - schließlich hatten die meisten Serien damals nur einen Akt und abgeschlossene Handlungen. Und sogar auf eine weitere Art legte seine Zeit bei "Akte X" die Grundlage für "Breaking Bad". In der von Gilligan geschriebenen Episode "Die Fahrt" gab Bryan Cranston den Gegenspieler. "Ich dachte mir, dieser Cranston-Typ ist so gut, den muss ich abspeichern, um noch mal mit ihm zu arbeiten", erinnerte sich Gilligan und besetzte ihn zehn Jahre später als Walter White.

Dass die Autoren von "Akte X" eine so hohe Qualität an den Tag legen, lag auch an der unerbittlichen Auslese von Showrunner Carter. "Der Schwund bei unseren Autoren war sehr groß", weiß Gilligan. Nicht wenige saßen nach der dreizehnwöchigen Probezeit wieder auf der Straße. "Es gab mindestens ein Dutzend Autoren, die nicht funktionierten", gestand Howard Gordon dem "Hollywood Reporter". Der spätere "24"-Macher führt sein Verständnis für Spannungsaufbau auf die "X-Files" zurück. Die hohe Fluktuation an Kreativen hatte noch einen anderen Grund, wie Chris Carter erklärt: "Eine der Sachen, die dir keiner sagt, ist, dass dir deine besten Leute weggeschnappt werden, wenn du einen Hit hast."

Und das ist vielleicht das beeindruckendste am Writer's Room von "Akte X". Wann immer ein Vorzeigeautor abwanderte, fand Carter gleichwertigen Ersatz, teils auf bizarre Art und Weise. Gilligan, der ab Staffel zwei dazustieß, hatte den Schwippcousin von Chris Carter als Agenten. Und Frank Spotnitz, der aktuell "The Man in the High Castle" bei Amazon leitet, traf seinen späteren Showrunner im Buchclub.

Die Erben des Erfolgs

In den USA hat man für die Folgewirkung sogar ein Sprichwort: Success breeds success - Erfolg gebärt Erfolg. "Akte X"-Autor Alex Gansa schuf später "Homeland", stellte dort Meredith Stiehm als Autorin ein, die anschließend "The Bridge" leitete, in deren Writer's Room Patrick Somerville so beeindruckte, dass er jetzt für Netflix die Serie "Maniac" schreiben darf.

Die Dokureihe "Writer's Room", die die Macher von Serien wie "Game of Thrones" oder "Dexter" über ihre Hits reflektieren lässt, widmet sich nicht explizit "Akte X". Aber in der Auftaktepisode zu "Breaking Bad" ist die Genealogie deutlich erkennbar. Genau wie Showrunner James Manos Jr. in der "Dexter"-Episode deutlich macht, wie viel er seiner Zeit bei "Die Sopranos" verdankt, in deren Schreibstube unter anderen Robin Green und Mitchell Burgess ("Blue Bloods"), Terence Winter ("Boardwalk Empire"), Todd A. Kessler ("Damages") und Matthew Weiner ("Mad Men") ihre Sporen verdienten. Gerade auch deshalb ist ein Blick in die sechs Folgen von "Writer's Room" faszinierend. Erklärt er doch nicht nur die Hintergründe zahlreicher Serienklassiker, sondern den gesamten Serienboom der letzten Jahrzehnte, der darauf basiert, dass genau hier seit den 90ern Autorentalente gefunden, gefördert und gepflegt wurden.

Autor: Rüdiger Meyer

Der Genius Loci und seine Sprösslinge

Vince Gilligan

Mit "Breaking Bad" und dessen Spin-off "Better Call Saul" hat Vince Gilligan, der insgesamt 30 Episoden von "Akte X" schrieb, die wohl imposanteste Karriere aller Exautoren der Mysteryserie hingelegt.

Tim Minear

Minear gehörte nur in Staf fel 5 zum "Akte X"-Team. Später schrieb er einige der besten Episoden von Joss-Whedon-Serien wie "Buffy". Seine Serie "Drive" lief nur kurz, aber als " American Horror Story"-Produzent ist er erfolgreich.

Alex Gansa

Gansa kam zusammen mit Howard Gordon als Autorenduo zu "Akte X". Nach einer Staffel wollte Gansa jedoch seinen eigenen Weg gehen. Für seinen größten Serienhit "Homeland" holte er jedoch Gordon zurück ins Boot.

Greg Walker

Walker gehörte zu den Spätstartern und schrieb sein erstes "Akte X"-Skript in Staffel 7. Anschließend stieg er bei "Without a Trace" bis zum ausführenden Produzenten auf und kreierte mit "Vegas" seine erste eigene Serie.

Chris Brancato

Die elfte "Akte X"-Folge war seine, danach blieb Chris Brancato dem Genre anderweitig treu, u. a. mit seiner Serie "First Wave - Die Prophezeiung". Seinen ersten Megahit landete er jüngst mit der Netflix-Serie "Narcos".
Frank Spotnitz

Von Staffel 2 bis Staffel 9 war Frank Spotnitz einer der führenden Köpfe im Writer's Room von "Akte X". Mit "Die Medici" und der Amazon-Serie "The Man in the High Castle" stieg er zum gefragten Showrunner auf.

David Greenwalt

Greenwalt schrieb nur eine Episode von "Akte X", bevor er wie Minear ins Whedon-Verse wechselte und zum Showrunner von "Angel" wurde. Zuletzt war er einer der Schöpfer der Vox-Mysteryserie "Grimm".

Howard Gordon

Nach Gansas Abgang schrieb Gordon bis zur 4. Staffel allein "Akte X"-Drehbücher. Als Produzent verantwortete er später Serien wie "24" und "Tyrant".

Jeffrey Bell

Als einer der Auswechselspieler stieß Jeffrey Bell ab Staffel 6 zu "Akte X". Heute ist er als ausführender Produzent von "Agents of S.H.I.E.L.D." einer der führenden Köpfe von Marvels Expansion ins Fernsehen.

Steven Maeda

Ab Staffel 7 saß Steven Maeda im Writer's Room von "Akte X". Als ausführender Produzent hat er einige kurzlebige Serien wie "Pan Am", "Conviction" und "Helix" verantwortet.

Glen Morgan und James Wong

Das Duo gehörte zu den Ersten, die "Akte X" abgeworben wurden. Sie wurden geködert, indem man ihnen mit "Space 2063" eine eigene Serie anbot. Den größten Hit feierten sie aber im Kino mit "Final Destination".