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"The Irishman" auf Netflix: Warum du in einem Rutsch schauen solltest

Robert De Niro und Al Pacino auf dem Plakat zu The Irishman
Robert De Niro und Al Pacino auf dem Plakat zu "The Irishman" Montage / Sender

So sehr man Netflix dafür hassen möchte, dass "The Irishman" nur für sehr kurze Zeit im Kino laufen wird - man muss auch dankbar dafür sein, dass der Film überhaupt existiert. Denn Martin Scorseses neuestes Werk hat alle Chancen, dass man sich daran noch Dekaden später erinnern wird.

Der nachfolgende Text gibt die eigene Meinung eines einzelnen Autors wieder und ist deshalb nicht repräsentativ für TV SPIELFILM.

Wer wünscht sich als Cinephiler denn nicht, diesen oder jenen Klassiker im Kino gesehen zu haben, als er damals ganz neu herauskam? Egal ob zum Beispiel "Vom Winde verweht", "Der Weiße Hai" oder, noch vergleichweise jung, "Schindlers Liste"? In Zeiten von Blu-rays in 4K-Auflösung und Streamingdiensten mag es eher ungewöhnlich erscheinen, wenn man einen Meilenstein der Filmgeschichte überhaupt noch nicht gesehen hat. Aber das erstmalige Erlebnis auf der großen Leinwand, wenn das entsprechende Werk ganz frisch ist - das ist für unsereins doch wie ein winzig kleines Stück Kulturgeschichte, dem man quasi "live" beiwohnen darf. Umso privilegierter sollte man sich fühlen, wenn man denn tatsächlich einen solchen Film zum genau richtigen Zeitpunkt so sehen konnte, wie es vom Macher intendiert war. Dieses Privileg bekommen Kinogänger dieser Tage für kurze Zeit mit "The Irishman", dem neuen Film von Martin Scorsese.

Der hat in der jüngeren Vergangenheit vor allem mit Leonardo DiCaprio für Aufsehen gesorgt, mit Beiträgen wie "The Aviator", "The Departed" oder "The Wolf of Wall Street". Unvergessen bleiben aber auch seine Verdienste im Gangsterfilm-Genre mit unter anderem "GoodFellas" oder "Casino". Überhaupt: Denkt man an die italienische Mafia im Film, fallen einem ohnehin nur Scorseses Meilensteine und Francis Ford Coppolas "Der Pate"-Trilogie auf Anhieb ein - so monumental thront deren Schaffen über dem Rest. Mit "The Irishman" kehrt Scorsese zurück zu den Mobstern, denen er erneut ein filmisches Denkmal geschaffen hat, das aber trotz jeder Menge Witz und Coolness auch überraschend melancholisch reflektiert daherkommt.

The Irishman: Darum geht es

Der Trailer zu "The Irishman" Sender
Für Frank Sheeran (Robert De Niro) ist die Zeit zum großen Rückblick gekommen. In einem Altenheim sitzend sinniert er über sein Leben nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere über seine enge Verbindung zur italienischen Mafia. Insbesondere zu Russell Bufalino (Joe Pesci) pflegte Frank eine langjährige Freundschaft wie Geschäftsbeziehung, die ihm nicht nur jede Menge Geld und ein gutes Leben sicherte, sondern ihm auch den Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa (Al Pacino) vorstellte. Schon bald begann Frank auch für ihn zu arbeiten. Doch dann begann Hoffa Dinge zu tun und zu sagen, die Bufalino und der Mafia ein Dorn im Auge waren. Frank, beiden Parteien loyal ergeben, stand auf einmal zwischen den Fronten.

Pesci, De Niro, Pacino - Umwerfend gut

Mit Joe Pesci drehte Scorsese vor "The Irishman" schon mehrmals, spielte er doch in Klassikern wie "Wie ein wilder Stier", "GoodFellas" und "Casino" mit. Für "GoodFellas" gewann er sogar den Oscar als Bester Nebendarsteller und nun ist er für den Regisseur aus seinem Ruhestand zurückgekehrt - abgesehen von einer Sprechrolle und einem Werbespot war Pesci seit 2010 nicht mehr als Schauspieler aktiv. In früheren Rollen bei Scorsese trat er gerne mal als tödlicher Choleriker auf, doch der Zorn ist einem insgesamt in sich ruhenden, nuancierten, aber unterschwellig bedrohlichen Spiel gewichen, das perfekt zum alternden Gangster in diesem Epos passt.

An seiner Seite ist nach langer Zeit auch Robert De Niro wieder in einem Scorsese-Film zu sehen. Bevor der Filmemacher DiCaprio als neue Muse für sich entdeckte, bekleidete der Edelmime diese Rolle. Gemeinsam drehten sie neben den bereits genannten Titeln unter anderem auch "Hexenkessel", "Taxi Driver" oder "Kap der Angst" und schrieben so Filmgeschichte als eines der ohne jeden Zweifel besten Regie-Schauspieler-Duos überhaupt. Seit einigen Jahren wurden aber kritische Stimmen immer lauter, die sich besonders an De Niros zweifelhafter Rollenwahl ausließen -  Qualität suchte man bei den vielen Komödien, durchschnittlichen Actionthrillern und sogar einigen Direct-to-DVD-Beiträgen vergeblich. Doch mit "The Irishman" liefert er seine beste Darbietung seit langer Zeit ab. Trotz der vielen, zum Teil grandiosen anderen Darsteller ist das am Ende doch ganz alleine Franks Geschichte und damit auch De Niros Film, den er meisterlich auf seinen Schultern trägt. Dabei darf er ein breites Spektrum an Emotionen spielen und brilliert besonders im Schlussakt mit einem komplexen und äußerst einfühlsamen Spiel aus Selbstreflexion, Trauer und Reue.

Foto: Sender, Robert De Niro in "The Irishman"

Abgerundet wird das Hauptdarstellertrio von Al Pacino, der als Michael Corleone in den "Pate"-Filmen oder als Tony Montana in "Scarface" ebenfalls schon vor langer Zeit zur Genre-Koryphäe geworden ist und erstaunlicherweise bislang noch nie mit Scorsese zusammengearbeitet hat, wenn man bedenkt, dass beide große Erfolge mit Gangsterstoffen feiern konnten. Nun gibt er bei "The Irishman" sein Debüt im Œu­v­re des Meisters und legt besonders zu Beginn seiner Leinwandzeit mit Wutausbrüchen und flammenden Reden richtig los - ganz so wie man ihn kennt. Beeindruckend ist er aber besonders dann, wenn er kontrollierter auftritt und seine schiere, respekteinflößende Leinwandpräsenz für sich arbeiten lässt.

"The Irishman" wird von diesen drei Schauspielschwergewichten mühelos getragen, aber auch das übrige Ensemble ist exquisit besetzt, mit kurzen Auftritten von Leuten wie Harvey Keitel, Bobby Cannavale, Ray Romano oder Anna Paquin.

Wie "GoodFellas" - und doch anders

Das richtige Talent konnte Scorsese vor der Kamera versammeln, aber es war an ihm, dieses auch gekonnt durch die Geschichte zu führen, die wahrlich epische Ausmaße annimmt: Über mehrere Jahrzehnte erstreckt sich die Handlung, mit mal mehr mal weniger ersichtlichen Zeitsprüngen. Stolze 210 Minuten dauert "The Irishman" - dreieinhalb Stunden, vor denen man besser kaum bis nichts trinken und unbedingt aufs stille Örtchen gehen sollte. Kurioserweise findet sich im Film selbst ein kurzer Monolog genau zum Thema Harndrang zum falschen Zeitpunkt, als ob Drehbuchautor Steven Zaillian schon wusste, wie umfangreich sein Skript werden würde.

Foto: Sender, Plakat zu "The Irishman"

Wessen Blase aber durchhält, wird durch eine brillant inszenierte Erzählung geschickt, die auf wahren Begebenheiten beruht. Dabei werden sogleich Erinnerungen an frühere Meisterwerke Scorseses wach: Längere Tracking-Shots und ein gefühlt butterweicher Schnitt, dazu zwielichtige Gestalten, die auf recht amüsante Art Kriminelles aushandeln, ein insgesamt flottes Tempo - langweilig wird einem nicht und das Geschehen unterhält insgesamt so gut, dass sich die immense Laufzeit deutlich kürzer anfühlt. Dabei wähnt man sich schon in einem neuen "GoodFellas" und nostalgisch wird es deshalb nicht nur wegen der im Film dargestellten Epoche.

Über weite Strecken wirkt "The Irishman" so, als hätte sich Scorsese einfach auf alte Stärken berufen und wieder das gemacht, was er so gut kann wie kein Zweiter. Das alleine rechtfertigt die investierte Zeit. Die Handlung beleuchtet dabei aber nicht nur den Werdegang Franks als Gangster, sondern verortet das organisierte Verbrechen mitten im Herzen der modernen US-amerikanischen Geschichte - inklusive der Ermordung Kennedys.

Glanzloser Abgang

Mit "The Irishman" entfernt sich Martin Scorsese jedoch von der coolen Glorifizierung der Mafia, wie sie zuvor noch vorkam. Stattdessen wirft er einen kritischen und dann auch bitteren Blick auf das Leben als Vollzeitgangster. Da ist zum Beispiel Franks Tochter Peggy (Anna Paquin), die von klein auf ihren Vater und Russell genauestens und skeptisch beäugt, was sich auch im Erwachsenenalter fortsetzt. Viel Zeit bekommt sie nicht zugesprochen, aber die zählt und ihre stechenden Blicke fallen ein ums andere Mal deutlich auf. Blicke, die selbst gestandene Mobster vor Herausforderungen stellen - und symbolisch für eine Gesellschaft stehen, die dem Treiben zusieht, es aber nicht aufhalten kann, während die Unterwelt wiederum um ihre Akzeptanz wirbt, sie regelrecht erkaufen möchte.
Foto: Sender, Joe Pesci und Robert De Niro in "The Irishman"

Anders als zuvor erzählt Scorsese die Leben seiner Protagonisten dieses Mal auch wirklich zu Ende und sieht von ausufernden Gewaltorgien ab. Klar, die ein oder andere Erschießung oder Erdrosselung darf insgesamt nicht fehlen, aber den wirklich spektakulären Abgang dürfen die Hauptfiguren nicht machen. Nachdem alle Macht gehortet und jeder Geldschein gezählt wurde und das Gesetz doch noch durchgegriffen hat, bleibt nichts mehr vom alten Glanz übrig. Stattdessen bleiben nur unbeantwortete Fragen, warum und wie man denn sein eigenes Leben so dermaßen verwirken konnte, dass sich die eigene Familie abwendet und man deshalb seinen Lebensabend in Einsamkeit fristen muss. An diesem Punkt entwickelt sich "The Irishman" im letzten Abschnitt zu einem zutiefst berührenden wie bitteren Porträt über das Älterwerden und die Bewertung des eigenen Lebens. Ein konsequentes und stilles Ende einer lauten Existenz, das zum Schluss noch einmal die erzählerische Breite dieses Werks unterstreicht, mit dem sich alle Beteiligten, aber insbesondere Scorsese, Pacino, De Niro und Pesci eindrucksvoll zurückmelden.

Fazit: "The Irishman" ist ein Meisterwerk und - Netflix hin oder her - ganz, ganz großes Kino.

"The Irishman" erscheint am 14. November 2019 in deutschen Kinos und wird ab dem 27. November bei Netflix zur Verfügung stehen.