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"Systemsprenger" heute im ZDF: "Die Kinoleinwand zersprengt"

Helena Zengel in Systemsprenger
Außer Kontrolle: Helena Zengel in "Systemsprenger". Port au Prince

2019 sorgte Nora Fingscheidts Film "Systemsprenger" international für Aufmerksamkeit aufgrund seiner starken Darbietungen und einem brisanten Thema. Im Vorfeld der Free-TV-Premiere im ZDF sprach TVSPIELFILM.de mit der Filmemacherin über das bleibende Vermächtnis ihres Werkes.

2019 wirbelte "Systemsprenger" die internationale Filmgemeinde wie aus dem Nichts auf, als das intensive Drama bei der Berlinale debütierte und anschließend mehrere Preise gewann. In Nora Fingscheidts Regiearbeit brillieren Albrecht Schuch und Helena Zengel in einer Geschichte über ein kleines Mädchen, das aufgrund seines aggressiven Verhaltens nirgendwo unterkommt und dadurch das System aus Sozialarbeitern und Einrichtungen regelrecht "sprengt".

Am heutigen 17. Mai 2021 feiert "Systemsprenger" große Free-TV-Premiere im ZDF. Der Sender hat dafür die Primetime ab 20:15 Uhr freigemacht und widmet Film und Inhalt einen eigenen Themenabend. Nach der Erstausstrahlung folgt direkt im Anschluss um 22:10 Uhr die Doku "Schrei nach Liebe – Wie Kinder zu Systemsprengern werden", in der die reale Problematik verhaltensauffälliger Kinder geschildert wird. Einen Tag später, am 18. Mai um 22:15 Uhr, wird zusätzlich die "37°"-Dokumentation "Die Wütenden – Wenn Kinder das System sprengen" gezeigt, in der auf zwei konkrete Schicksale eingegangen wird.

Nach der "Systemsprenger"-Premiere wird Regisseurin Nora Fingscheidt ab 22 Uhr bei einem Instagram-Livetalk allen Interessierten Rede und Antwort stehen. TVSPIELFILM.de hatte dazu bereits die Gelegenheit und mit der Filmemacherin einen Blick zurückgeworfen.

Der Trailer zu "Systemsprenger". Port au Prince Films

Nora Fingscheidt: "Die Verantwortung hat man immer"

TVSPIELFILM.de: In Bezug auf die Thematik des Films und mit einigem zeitlichen Abstand: Gibt es eine Zeit vor und nach "Systemsprenger"? Was hat er, wenn überhaupt, bewirkt?

Nora Fingscheidt: Ich glaube, dass er einige Gespräche angeregt und dass er den betroffenen Kindern und Jugendlichen, aber auch Menschen, die mit Systemsprenger:innen arbeiten, Sichtbarkeit verschafft hat. Ob er jetzt politisch viel verändert hat, das weiß ich nicht. Dazu bin ich zu wenig in der Branche unterwegs.

Selbstverständlich gab es die übliche Filmpresse, aber wie war das Echo von Leuten, die in diesem System arbeiten? Gab es da auch persönliche Reaktionen?

Ja, da gab es wirklich viele. Und es gab zahlreiche Fachveranstaltungen von Jugendämtern oder von privaten Trägern, die den Film dann noch mal gezeigt haben für ihre Mitarbeiter und anschließend hatten wir darüber Gesprächsrunden. Das große Fazit war, dass viele gesagt haben: "Endlich kann ich meinen Verwandten zu Hause ein bisschen besser erklären, was mein Job überhaupt ist." Weil das für Leute außerhalb der Branche schwierig ist, sich vorzustellen, wie das eigentlich ist, mit Kindern wie Benni zu arbeiten. Viele meinten, dass es jetzt endlich etwas gebe, worüber man reden könne, mit Freunden, Partnern oder Eltern.

Ich kann mir vorstellen, dass ein Film wie "Systemsprenger" in Bezug auf seine Thematik so etwas wie eine Art Vorreiterstellung einnimmt oder wie ein Leuchtturmprojekt angesehen werden kann – also eines, das Aufmerksamkeit generiert und Diskussionen anregt. Aber bürdet man sich als Filmemacherin nicht auch eine gewisse Verantwortung auf?

Ich glaube, die Verantwortung hat man immer, in jeder Form. Wie zeige ich Gesellschaft? Welches Bild von Gesellschaft zeige ich, wie gestalte ich eine Familie im Film? Man nimmt und spiegelt einen Teil davon und das heißt, dass man sich dieser Verantwortung nicht entziehen kann, egal, ob man ein soziales Thema behandelt oder eine Komödie macht. In unserem Fall habe ich natürlich viel recherchiert, um sicherzugehen, dass ich keinen totalen Quatsch erzähle. Das war mir wichtig, dass das fundiert ist. Trotzdem ist sehr viel vereinfacht und fiktionalisiert und in eine Spielfilmform gebracht. Es definitiv kein Dokumentarfilm.

Balanceakt zwischen Realität und Fiktion

Foto: Port au Prince, Helena Zengel in "Systemsprenger"

Wenn man aber einmal diese Verantwortung für dieses Sujet übernommen hat und dann diese Resonanz sieht: Wie lange beschäftigen der eigene Film und die Thematik einen nach der Veröffentlichung? Wo ist der Punkt, an dem man sagt: "Jetzt gebe ich das wieder ab"?

Ein bisschen hält es einen noch beschäftigt, aber innerlich lässt man irgendwann los. Das kommt dann mit der Premiere und dem Kinostart, wo man merkt: Jetzt ist der Film da draußen und geht seinen eigenen Weg und ich bin jetzt im Kopf mit anderen Sachen beschäftigt. Die Jahre davor sind ja auch sehr viele. Im Falle von "Systemsprenger" waren es von der Idee bis zur Premiere fünf oder sechs Jahre Arbeit. Und das ist noch relativ schnell für einen Kinospielfilm. Und dann ist auch irgendwann gut und man widmet sich neuen Dingen.

"Systemsprenger" ist zwar fiktional, soll aber auch sehr authentisch sein – wie kriegt man die Gratwanderung zwischen diesen beiden Aspekten hin?

Das ist die größte Herausforderung gewesen über die gesamte Zeit. Einerseits durch viel Recherche. Aber auch indem man Leuten das Drehbuch gegeben hat, die nicht vom Fach sind. Ich habe immer versucht mit Leuten im Austausch zu sein, sowohl vom Fach als auch mit solchen, die zum Beispiel noch nie in einer Wohngruppe waren. Und wenn ich gemerkt habe, dass beide Gruppen vom Material angesprochen werden, dann hatte ich auch das Gefühl, eine gute Balance gefunden zu haben.

Auf nach Hollywood

Eine Frage zum Ende des Films: Die ultimative Erlösung gibt es für Benni an sich nicht. Ist das ein Zugeständnis an die reale Welt der Systemsprenger? War ein Happy End jemals eine Option?

Ein klassisches Happy End war für mich keine Option. Ich hätte das Gefühl gehabt, man täte den Kindern und jenen, die mit ihnen arbeiten, Unrecht. Denn man würde das dann so sauber beenden und eine einfache Lösung bieten, die es eben nicht gibt. Für mich ist das Ende allerdings gar nicht so düster, ich empfinde es eher als metaphorisch und positiv. Ich glaube, Benni wird noch viele Jahre Leute zur Verzweiflung treiben.

In der Schlusseinstellung scheint sie ja sehr glücklich zu sein.

Die Idee dahinter war tatsächlich, dass sie die Kinoleinwand zersprengt. Aber natürlich sieht jeder sein eigenes Ende. Ich habe bestimmt 15 verschiedene Interpretationen gehört und habe festgestellt: Jeder Mensch sieht darin seine Wahrheit, da ist dann auch keine richtig oder falsch.

Wie sieht es mit deinen zukünftigen Projekten aus? Ich habe gehört, Hollywood hat schon angeklopft?

Ja, ich habe hier einen Film mit Sandra Bullock für Netflix gedreht, der befindet sich gerade im Schnitt und wird im Herbst erscheinen. Der hat noch keinen Titel – momentan heißt er nur "Untitled Graham King Project" (lacht).

"Systemsprenger" wird am 17.05. um 20:15 Uhr im ZDF ausgestrahlt. Zusätzlich steht der Film schon jetzt in der ZDF-Mediathek zur Verfügung.

Foto: Port au Prince, Das Plakat zu "Systemsprenger"