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"Still Alice"

Juliane Moore: Was wirklich wichtig ist

Kaum zu glauben, dass Julianne Moore erst mit 54 ihren ersten Oscar gewann. Im Interview spricht sie darüber, wie das Alzheimer-Drama "Still Alice" ihr Leben verändert hat.

Vielleicht liegt es daran, dass sie als Kind mit ihren Eltern so oft umgezogen ist. Dass sie immer die Neue und die Fremde war, die mit dem Blick von außen auf das sah, was den anderen selbstverständlich war. Auf jeden Fall hat es diese Perspektive Julianne Moore erleichtert, besonders glaubhaft Figuren zu verkörpern, die keine Biografie von der Stange haben. Frauen wie die zwischen zwei Männern hin- und hergerissene Sarah in "Das Ende einer Affäre". Oder die suizidgefährdete Laura in "The Hours". Oder die an Alzheimer erkrankte Dozentin in "Still Alice", für den die heute 56-Jährige neben vielen Preisen auch ihren ersten Oscar gewann und den das Erste jetzt als Free-TV-Premiere zeigt.

Moore, die mit dem Regisseur Bart Freundlich zusammenlebt und zwei Kinder hat, verkörpert das bessere Amerika. Ein liberales, tolerantes
und kosmopolitisches Land, in dem Minderheiten geschützt und geachtet werden. Die Schauspielerin hat nicht vergessen, wie sie als Kind wegen ihrer Sommersprossen gehänselt wurde. Sie setzt sich für die Rechte von Schwulen ein und für schärfere Waffengesetze in den USA. An Gott glaubt sie nicht mehr, seit ihre schottische Mutter 2009 mit 68 plötzlich an den Folgen einen Infektion starb. Nicht der Beichtstuhl hat ihr geholfen, sondern die Couch. Moore, die nach eigener Aussage mit Anfang 30 unglücklich und allein war, hat durch eine Therapie neuen Mut gefasst. Heute wirkt sie ausgeglichen. Sie macht nicht viel Gewese um ihren Beruf, üerzeugt im Mainstreamkino à la "Die Tribute von Panem" ebenso wie in Arthousefilmen ("Maps to the Stars"). Ihr neues Projekt: eine Mafiaserie mit Robert De Niro für Amazon, bei der David O. Russell ("Silver Linings") Regie führen wird.
"Still Alice" Trailer
Foto: 2017 Getty Images, Juliane Moore ist stets gut vorbereitet: Auf ihre Rollen, aber auch auf Interviews...
Der Film "Still Alice" beruht auf dem gleichnamigen Buch von Lisa Genova. Ihr Eindruck nach der Lektüre?

Julianne Moore: Mich hat das Buch erschüttert, ich habe während des Lesens geweint. Ich habe mich gefragt, wie ich an Alice' Stelle gehandelt hätte. Und ich habe überlegt, was uns im Leben wirklich wichtig ist. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, eine Frau zu spielen, bei der die Alzheimer-Krankheit einsetzt? "Still Alice" ist ein kleiner Film, der in 23 Tragen gedreht wurde und nur vier Millionen Dollar gekostet hat. Aber die Vorbereitungen waren dafür umso intensiver. Ich habe mich zunächst an die Alzheimer Association gewandt. Deren Direktor hat den Kontakt zu drei Frauen hergestellt, bei
denen Ärzte Alzheimer im Frühstadium diagnostizierten. Eine lebte in Neuengland, die zweite in Chicago und die dritte in Minnesota. Wir haben über Skype miteinander telefoniert, das waren sehr hilfreiche
Gespräche. Danach bin ich in New York im Mount Sinai Hospital
gewesen und habe mich mit einem Neuropsychiater über die Krankheit unterhalten. Ich habe mich auch dem Mini-Mental-Status-Test
unterzogen, der dazu dient, Anzeichen von Demenz und Alzheimer zu diagnostizieren.

Waren Sie nervös, als Sie auf das Ergebnis warteten?

Meine Ergebnisse waren normal, aber das habe ich erst nach zwei Wochen erfahren. Wichtig waren für mich auch die Gespräche mit
Menschen, die Alzheimer-Patienten unterstützen. An ihrem Urteil liegt mir sehr, ich habe sie deshalb auch vor dem Dreh gefragt: Wie wollt ihr, dass ich Alice darstelle? Im Anschluss war ich in einer Einrichtung für Langzeitpatienten. Die Menschen konnten sich nur sehr schlecht erinnern. Eine, Julia, war 63 und hatte ihre Sprache verloren. Aber sie war noch da, ihr Wesen war noch nicht erloschen. Eine andere war erst 45, als man die Krankheit bei ihr feststellte. Sandy hatte einen Operationsraum für Neurochirurgie geleitet, eine ganz unglaubliche Frau, schlank und rothaarig wie ich. Wir sind Freundinnen geworden, sie hat ihren 50. Geburtstag am Set gefeiert.

Hat Sie etwas an den Patienten überrascht?

Die meisten Alzheimer-Patienten, die ich getroffen habe, sind nicht so komplett weggetreten und unansprechbar, wie man glaubt. Die Kranken arbeiten hart, um zu funktionieren, zu kommunizieren und einfach zu leben. Wie schwer das sein kann, wurde mir klar, als ich versuchte, mit einer Frau ins Gespräch zu kommen, die sich vor mir ein wenig zu fürchten schien. Ihre Pflegerin fragte die Patientin, ob sie nicht mit mir spazieren gehen wollte. Sie nickte, aber dann geschah etwas sehr Seltsames. Sie ging rückwärts. Das war ihre Art, ihre Furcht auszudrücken, mit dem Körper, weil sie die Sprache nicht mehr beherrschte.

Haben Sie selbst ein gutes Gedächtnis?

Als Kind konnte ich alles behalten. Ich war in der Familie diejenige, die wusste, wo der Haustürschlüssel lag und wann im Kino die Filme liefen, die wir uns angucken wollten. Ich habe das für selbstverständlich gehalten. Als ich älter wurde, habe ich schon mal die eine oder andere Sache vergessen, aber das ist nicht mit Alzheimer vergleichbar. Die Krankheit greift viel radikaler in unser Orientierungsvermögen ein. Es geht nicht mehr darum, dass man seinen Schlüssel nicht findet,
sondern dass man nicht mehr weiß, was ein Schlüssel ist, weil man auch vergessen hat, wie ein Schloss funktioniert und was eine Tür ist.
Die selbstverständliche Beziehung des Menschen zu Raum und Zeit ist zerbrochen.

Was haben Sie aus diesen Erfahrungen für sich mitgenommen?

Alice wird auf eine Weise mit dem Tod konfrontiert, die sie zwingt, sich Gedanken darüber zu machen, was im Leben wichtig ist und was nicht. Ihr Schicksal macht uns alle nachdenklich. Mir ist klar geworden, wie viel Glück ich bislang gehabt habe, mit meinem Mann, meinen Kindern, meiner Karriere.

Einer der Regisseure von "Alice" litt selbst unter einer schweren Krankheit und ist inzwischen daran gestorben.

Richard Glatzer und Wash Westmoreland waren seit 18 Jahren ein Paar und hatten vor Kurzem auch geheiratet. Als ich Richard das erste Mal traf, hatte er Probleme mit seiner Zunge. Alle dachten, es wäre eine Infektion. Tatsächlich waren es die ersten Symptome der Muskelkrankheit ALS. Beim Dreh ging es ihm dann schon so schlecht, dass er nur noch via iPad kommunizieren konnte. Seltsamerweise habe ich ihn bis zuletzt als gleichberechtigten Regisseur wahrgenommen.

Ist es wahr, dass Sie "Still Alice" in Drehpausen von "Die Tribute von Panem - Mockingjay" gedreht haben?

Ja, die Produzenten waren so großzügig, mir einen Monat freizugeben, um zwischendurch "Still Alice" zu drehen.

Und nebenbei finden Sie außerdem noch die Zeit, Kinderbücher zu schreiben?

Ja, sieben Bücher gibt es bereits in der Reihe um "Sommersprossenfeuerkopf". Außerdem habe ich zwei Apps dafür entwickelt. Und dann habe ich vor einiger Zeit ein Buch über meine schottische Mutter geschrieben: "My Mom Is a Foreigner, But Not to Me" - das wird von Tag zu Tag aktueller.

Interview: Scott Orlin