Es ist der persönlichste Film von Alfonso Cuarón. Für "Roma" - der Titel bezieht sich auf den Stadtteil in Mexiko City, in dem er aufwuchs - kehrte Cuarón an den Ort seiner Kindheit zurück. Beim Filmfest in Venedig erhielt er für das Schwarz-Weiß-Drama den Goldenen Löwen. Einen ebenso hohen Stellenwert wie für den Regisseur hat der Film für seinen Produzenten Netflix. Um eine Chance auf den nur Kino­fimen zustehenden Oscar zu haben, schenkte der Streamingdienst "Roma" einen Alibi-Leinwandstart.

Mit Erfolg: "Roma" gilt als einer der Oscar-Topfavoriten. In vielen Jahresbestenlisten renommierter Filmzeitschriften ist der Film ganz oben zu finden, z.B. bei den britischen Kollegen von Sight & Sound

Das Interview mit Alfonso Cuarón

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit, um die es im Film geht?
Alfonso Cuarón: Mein Gedächtnis funktioniert so, dass ich mich ganz klar an visuelle Details aus meiner Kindheit erinnere. Aber meine Gefühle haften nicht an bestimmten Szenen, sondern sind eher ein emotionaler Untergrund, der sich über die ganze Zeit der Kindheit erstreckt. Am wohlsten habe ich mich als Kind in der Nähe der Küche gefühlt.

Welcher der Jungen, die wir in Ihrem Film sehen, sind Sie?
Der langweilige. (lacht)

Wie entscheiden Sie, welche Aspekte Ihrer Kindheit relevant für den Film sind - Geräusche scheinen für Sie sehr wichtig zu sein, oder?
Das stimmt, jede Stadt hat ihre eigenen Sound und ihren eigenen Rhythmus. Ich glaube, man muss sehr ­spezifisch auf die Eigenheiten eines ­Ortes eingehen, wenn man eine uni­verselle Wirkung erzielen will. Mich hat es sehr berührt, wie emotional ­Menschen unterschiedlicher Kulturen auf meinen Film reagieren. Als er beim Tokyo Film Festival lief, tauschten sich Menschen in den sozialen Medien über ihre eigene Kindheit aus. Familiengeschichten interessieren Menschen überall auf der Welt.

Wie wichtig war das Kindermädchen für Sie?
Das Kindermädchen Cleo, das im Film von Yalitza Aparicio gespielt wird, kam zu uns, als ich einen ­Monat alt war. Ich habe sie Mama ­genannt. Später, als ich älter wurde, ­habe ich sie dann nicht mehr als ­Mama angesprochen. Ich wollte sie nämlich heiraten.

Waren Ihre Eltern reich?
Nein. Ich habe mich gewundert, dass in manchen Kritiken stand, der Film spiele in einem Haus der Oberschicht. Tatsächlich entsprach das Haus dem Standard der unteren Mittelklasse. Alles war alt und brüchig. Aber es gibt immer jemanden, dem es noch schlechter geht und der einen Job sucht. So konnten sich meine ­Eltern ein Kindermädchen leisten. Cleo wurde ausgebeutet, aber auch geliebt. Ich glaube, diese Nähe von Schönheit und Horror macht menschliche Erfahrung aus.

In einer Szene sagt Sofia, die Frau des Hauses, zu Cleo, dass Frauen immer allein seien. Glauben Sie das?
Ich kann darauf keine allgemeine Antwort geben. Hier geht es um zwei spezifische Charaktere, und sich im Mexiko der Siebzigerjahre scheiden zu lassen war wie Scheidung in den USA der Dreißigerjahre. Die Frauen waren gebrandmarkt. Ihnen wurde vorgeworfen, versagt zu haben, weil sie die Einheit der Familie nicht bewahrt hätten.

Ähnlich wie "Gravity" - auch wenn die Filme nicht zu vergleichen sind - entfaltet sich "Roma" bedächtig.
Es ist ein Film der Erinnerung, der den Orten nachspürt, in denen Menschen gelebt haben. Dazu braucht die Kamera Zeit. Als ich mit dem Film begonnen habe, hatte ich keine Ahnung, wie lang er werden würde. Ich habe mich einfach treiben lassen.

Sie haben den Film nicht nur gedreht, sondern auch die Kamera bedient.
Ich musste die Bilder selbst finden. Es ist ja gar nicht so einfach, eine Antwort auf die Frage zu geben, wovon der Film handelt. Es geht um die menschliche Existenz, um die emotio­nale Bedeutung dessen, was es heißt, lebendig zu sein.

Wie wichtig war es für Sie, einen Film in Ihrer Muttersprache zu drehen?
Sehr. Es war für mich fast ein kör­perliches Bedürfnis, nach Mexiko zu reisen und dort den Film zu drehen. Ich lebe eine kosmopolitische Existenz, arbeite überall auf der Welt. Ich glaube nicht an Patriotismus und Nationalismus, aber ich glaube an kulturelle Wurzeln. Und an die Macht der Sprache. Leider kann ich nicht so gut Englisch wie Yalitza, die sich diese Sprache richtig angeeignet hat. Ich denke, rede und träume auf Spanisch.

Alfonso Cuarón

Als Student flog er von der Filmhochschule, weil er zu eigenwillig war, aber geschadet hat es Alfonso Cuarón nicht. 2004 drehte der Mexikaner den düsteren dritten Teil der "Harry Potter"-Reihe, zehn Jahre später gewann er den Oscar für das Weltraumdrama "Gravity" mit Sandra Bullock. Der 57-Jährige nutzt virtuos digitale Technik, stellt sie aber stets in den Dienst der Story. Dreht demnächst mit Casey Affleck.