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Titelstory

Der große Schau-down

1 IFA 2008 Rakers
Sprecherin der Tagesschau: Judith Rakers rbb/Oliver Ziebe

So wappnet sich Deutschlands größte TV-News-Fabrik gegen die Online-Konkurrenz

Donggg! "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau." Seit fast sechs Jahrzehnten ist der 20-Uhr-Gong eine Institution wie das sonntägliche Glockenläuten. Die Tagesschau: Bastion öffentlich-rechtlichen Premiumflimmerns, allabendliches Hochamt. Journalistischer Weihrauchdunst umgibt die älteste deutsche Nachrichtensendung (Erstausstrahlung: 26.12.1952). Doch auch der kann ein Problem nicht verschleiern: Die Gemeinde überaltert. Der Durchschnittszuschauer ist 60 Jahre alt. Was tut die lebende Legende Tagesschau, um nicht als lebendes Fossil zu enden? Wir blickten einen Tag lang hinter die Kulissen.

Hamburg, Stadtteil Lokstedt: In Hör- und Riechweite zu Hagenbecks Tierpark residiert der NDR. Gleich vorn hinter dem Schlagbaum ein dreistöckiger Neunzigerjahrebau. Er beherbergt die Redaktion "ARD Aktuell". Es ist 10.30 Uhr. Wie in jeder News-Redaktion beginnt der Arbeitstag mit einer Konferenz. Chefredakteur Kai Gniffke verliest die Quoten vom Vortag: "27,2 Prozent. Ein schlechtes Ergebnis." Besonders bei den jungen Zuschauern geht der Trend seit Jahren nach unten. Was tun? Gniffkes Rezept: "Wir müssen den Jüngeren dort begegnen, wo sie sich informieren, und das sind Online-Medien." Trotzdem ist er sich sicher: "Die Tagesschau um 20 Uhr wird es auch in 15 Jahren geben."

Die Tagesschau ist Puzzlearbeit am Rechner

Nach der Ursachenanalyse des Quotentiefs ("wahrscheinlich das Wetter") tragen die Redakteure Themen vor: Top-News ist heute der Afghanistan-Gipfel in London. Gleich dahinter: Obamas Rede zur Lage der Nation. Ansonsten: Mal sehen, was der Tag noch bringt. Dann geht Claudia Bartels, Planungsredakteurin Ausland, an ihren Arbeitsplatz in einem Großraumbüro. "Wir werfen die groben Netze aus", beschreibt sie ihre Aufgabe: Themen finden, die Relevanz von Er-
eignissen bewerten. Im Minutentakt düdelt das Telefon. Berichterstatter aus Singapur, Kabul und Mexico-City bieten Themen an. Vergeblich, denn heute ist der Tag des Korrespondenten Björn Staschen, der den ganzen Tag aus London berichtet. Tagesschau-Redakteure machen ihre Nachrichten nicht selbst. Dafür sind Reporter und Korrespondenten da, die in Absprache mit der Redaktion Beiträge nach Hamburg liefern.

Am frühen Nachmittag beginnt das Sendeteam mit der Vorbereitung "der Zwanzig". Redakteure tippen Sprechertexte ins System und verhandeln am Telefon mit Korrespondenten Details und Formulierungen ihrer Berichte. Chef vom Dienst Oliver Hähnel checkt Filmbeiträge am PC, addiert Minuten und Sekunden und puzzelt am Rechner den Sendeablauf zusammen. Die Atmo-sphäre ist konzentriert, aber nicht hektisch. Jeder weiß, was er zu tun hat, und beherrscht seinen Part wie in einem gut eingespielten Orchester. Zeit für einen Blick in die Zukunft, wie Chefredakteur Gniffke sie sich wünscht. Zwei Stockwerke höher liegt die Redaktion von tagesschau.de, der Website zur Sendung. "Tagesschau ist auf dem Weg zur multimedialen Nachrichtenmarke", sagt Online-Chef Jörg Sadrozinski. Einmal angepikst, kann er stundenlang über verändertes Mediennutzungsverhalten, "mobile Ausspielungen" und die Zukunft des Webs dozieren.

Klingt alles gut, aber die Praxis hinkt hinterher. tagesschau.de spielt trotz üppiger Personal- und Technikausstattung mit monatlich 20 Millionen Besuchern gerade mal in der Liga von n24.de und n-tv.de. Die News-Platzhirsche Spiegel Online und bild.de verbuchen fast sechsmal so viele Visits. Hinzu kommt, dass es höchst umstritten ist, ob es zum Grundversorgungsauftrag gehört, mit GEZ-Geld Twitter-Feeds und iPhone-Apps zu produzieren. Deutschlands Verlage klagen angesichts der mit Gebührenmillionen gepäppelten Konkurrenz im Netz über Wettbewerbsverzerrungen und warnen vor einem Verlust von Meinungsvielfalt. Sadrozinski lässt diese Einwände nicht gelten: "In ein paar Jahren wird man zwischen Fernsehen und Internet sowieso nicht mehr unterscheiden können."

"In Zukunft gibt es viele 20 Uhrs"

Wie das aussehen soll, kann man ein paar Türen weiter besichtigen. In einem kleinen Büro stehen zwei nagelneue Hybrid-Fernseher. Das sind TV-Geräte mit Onlinezugang. Roman Schmelter von der Abteilung "Strategie und Innovation" kniet auf dem Boden und wühlt in einem Kabelknäuel. "Hmm, eigentlich müsste jetzt..." Stecker klicken. Dann leuchten auf dem HD-Bildschirm bunte Logos und Fenster auf: YouTube, Bloomberg, Eurosport, Picara, Tagesschau. "Ein Druck auf die Fernbedienung, und Sie sehen die aktuellste Tagesschau als Webstream auf dem Fernseher - wann immer Sie es wollen!" Aber was wird dann aus der 20-Uhr-Ausgabe, von der Kai Gniffke versichert, sie werde sie auch in 15 Jahren das ARD-Flaggschiff sein? Sadrozinski überlegt kurz. "In Zukunft gibt es ganz viele 20 Uhrs."

Das wünschen sich die Kollegen vom Sendeteam inzwischen auch. Es ist 19.30 Uhr, und gerade lief die Meldung ein, dass der US-Autor J. D. Salinger gestorben ist. In der Redaktion beginnt ein Kampf gegen die Uhr: Meldung formulieren, Foto beschaffen, Sekunden addieren, fertigen Beitrag rausschmeißen, um Platz zu schaffen. Es ist der tägliche Kampf um Aktualität, der gegen Internet, Twitter & Co. am Ende immer nur verloren werden kann.

Minuten vorm Gong: die Panne

Im Studio nebenan ist die Stimmung noch entspannt. Sprecher Thorsten Schröder ist zum Einleuchten gekommen. Auf Knopfdruck fahren im Regieraum drei Roboterkameras in Position, und die Scheinwerfer richten sich nach dem extra für ihn einprogrammierten Schema aus. Schröder prüft mit übertriebener Akribie den Krawattenknoten, nimmt Showmaster-
posen ein. Zumindest hinter den Kulissen ist das Seriositätsmonstrum Tagesschau keine spaßfreie Zone.

Derweil bricht in der Redaktion echte Hektik aus: Sechs Minuten vor dem Gong trifft der Aufmacherbericht vom Londoner Afghanistan-Gipfel ein - ohne Ton! Was nun? Redakteur Patrick Uhe schnappt sich beherzt ein Mikro und beginnt im Trubel des Großraumbüros den gemailten Text selbst aufzusprechen.

Noch 30 Sekunden bis zur Sendung: Im Regieraum sitzt jeder auf seinem Platz. Der Tontechniker parkt den Zeigefinger schon mal auf dem Knopf, der den Gong auslöst - keine Konserve, ein echtes Instrument mit mechanischem Klöppel und Mikro, das im Keller steht. Drei, zwei, eins, Gonggg: "Hier ist das
Erste..." Während die Fanfare ertönt, trifft der Chef vom Dienst Oliver Hähnel eine Entscheidung: Der eilig nachvertonte London-Bericht geht so nicht über den Äther...

Es ist 20.16 Uhr. Manöverkritik. Gut, dass man noch die London-Reportage aus der 17-Uhr-Ausgabe in petto hatte. Nur wenige der neun Millionen Zuschauer dürften gemerkt haben, dass der Gipfel-Bericht eine Wiederholung war und buchstäblich in letzter Sekunde eingeschoben wurde. "Vielleicht können die Tagesthemen mit dem ausgefallenen Stück etwas anfangen", sagt Hähnel. Er und sein Team haben jetzt Feierabend, aber ihre Rechner bleiben hochgefahren. Die Schicht für die Nachtausgaben kommt gleich und nimmt den Kampf gegen die Uhr und den Vorsprung der schnellen Onlinemedien auf. Einfacher wird das nicht.

C. Holst