Wien, 2015: letzter Platz; Stockholm, 2016: letzter Platz; Kiew, 2017: vorletzter Platz - das Abschneiden der deutschen Interpreten beim Eurovision Song Contest macht schon lange keinen Spaß.

Wie kommt man da raus? Stefan Raab, der ab 2010 drei Jahre lang für erfreulichere Ergebnisse und - dank Lena - sogar für einen Sieg sorgte, steht bekanntlich nicht mehr zur Verfügung. ARD-Unterhaltungschef Thomas Schreiber spricht nun von einem "radikalen Neuanfang". Das heißt? Zunächst mal, dass das Vorauswahlverfahren erheblich komplizierter wird.

Die Kölner Datenfirma Digame Mobile, die seit Jahren die ESC-Stimmenauszählung besorgt, hat im Auftrag des NDR über die sozialen Netzwerke 100 000 Menschen angesprochen, die Fragebogen ausfüllten und mithilfe eines eigens entwickelten Algorithmus zu einem 100-köpfigen "Eurovisions-Panel" verbunden wurden.

Sehnsucht nach Neuanfang

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Voxxclub

Neuanfang bedeutet offenbar auch, dass die Erklärungen von gestern keine Gültigkeit mehr haben. Früher gab Schreiber indirekt dem deutschen Publikum die Schuld am Scheitern: Dessen Voten in den Vorentscheiden hätten am europäischen Geschmack vorbeigezielt.

Heute heißt es im NDR-Erklärfilm, das deutsche Publikum spiegele "den Geschmack der ESC-Zuschauer sehr gut wider". Das Eurovisions-Panel, das die teilnehmenden Nationen abbilden soll, aber über die Landesgrenzen nicht hinausgeht, sowie eine zweite Jury aus 20 Ex-ESC-Juroren siebten aus 4000 Bewerbern sechs Finalisten aus. Natia Todua, Ivy Quainoo und Michael Schulte kennt man aus der Castingshow "The Voice", Xavier Darcy ist Singer-Songwriter, Ryk Jurthe Sänger und Komponist, Voxxclub ist als Volksmusikact erfolgreich. In einer Art Bootcamp schließen sich die Interpreten mit Komponisten ein und erarbeiten Lieder und Performances, über die dann in der Vorentscheidshow abgestimmt wird. Stimmberechtigt sind die Panel-Jury und das Publikum. Und am Ende, nach so viel Aufwand, so großen Zahlen, so vielen Experten hat man den perfekten Song. Oder?

Die Suche nach der Hitformel

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Voice of Germany-Siegerin Ivy Quainoo

Die Suche nach der Hitformel ist so alt wie die Popmusik. Gefunden wurde sie nie, auch wenn man zwischendurch mal den Eindruck hatte. Etwa als in den 70er-Jahren das Gespann Chinn/ Chapman einen Hit nach dem anderen für The Sweet, Smokie oder Suzi Quatro produzierte. So wie es das Trio Stock Aitken Waterman in den 80ern für Rick Astley, Jason Donovan und Kylie Minogue tat.

Sieht man jedoch genau hin, wirkten keine Formeln, sondern Macher mit Bauchgefühl, die für eine bestimmte Zeit einfach eine enge Verbindung zum Zeitgeist und zum Publikumsgeschmack hatten. Macher, die bei aller Kommerzialität Statements setzten, nicht Marktforschungs- ergebnisse vertonten.

Der ESC spiegelt das wider. Die letzten Gewinner waren ein verhuschter Portugiese im zu großen Jackett, ein Song über die Verbrechen Stalins, ein Mann, der mit einer Zeichentrickfigur tanzte, eine österreichische Dragqueen. Allesamt waren auf ihre Art einzigartig. Findet man die, wenn man auf die Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners setzt?