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Making of

"Victoria": Ohne Schnitt durch die Berliner Nacht

Victoria: Ohne Schnitt durch die Berliner Nacht
Arte

So drehte Sebastian Schipper das preisgekrönte Echtzeit-Experiment "Victoria" mit Frederick Lau und Laia Costa.

Einen Film gegen alle Regeln des Filme­machens wollte er drehen, strikt ohne Tricks und doppelten Boden. Den ganzen Ballast abwerfen und zurückkehren zu den Ursprüngen des Kinos, als es nur drei Dinge brauchte: eine Idee, eine Kamera, den Zuschauer. Ein wenig vergleichbar mit dem Ausgangspunkt von Punk, wo es ja anfangs darum ging, dem hochtechnisierten Bom­bastrock in den Hintern zu treten, zurück­zukehren zum Kern der Dinge und deren un­mittelbarer Erfahrbarkeit.

Also, die Idee: Der Film begleitet in Echtzeit eine junge Spanierin (Laia Costa), die mit vier Typen (u. a. Frede­rick Lau) durchs Berliner Nachtleben driftet und schließlich in einen furchtbaren Schla­massel gerät. Die Kamera: bedient der Norwe­ger Sturla Brandth Grøvlen, der keine Scheu vor Experimenten und eine ungeheure Beweglichkeit besitzt. Der Zuschauer: ist bereit, der Ansage "in Echtzeit ge­dreht" zu glauben. Wer sich im Sommer 2015 im Kino auf dieses so nie da gewesene Filmerlebnis eingelassen hat, der erwachte nach knapp zweieinhalb Stunden wie nach einer durchzechten, rauschhaften Nacht... Man kann sagen, dass Regisseur Sebastian Schipper sein einzigartiges Filmexperiment ganz wunderbar geglückt ist. Genau die Kino­erfahrung, die ihm bei der Idee zu "Victoria" vorschwebte, erlebten wohl auch die aller­meisten, beglückten Zuschauer.
In einem Take? Bestimmt geschummelt...
Foto: Arte
Dabei erntete Schipper mit seiner formalen Vorgabe, den kompletten Film in einem Take zu drehen und gänzlich auf Schnitte zu ver­zichten, erst einmal Kopfschütteln. Zumal es kein "normales" Drehbuch gab, sondern nur ein zwölfseitiges Exposé ohne feste Dialoge. Große Geldgeber waren also nicht im Boot, der Kreis aller Beteiligten blieb überschaubar.

Als das Ding im Kasten war, pas­sierte erst einmal: gar nichts. Eingereicht auf großen Festivals, trudelten nur Ab­sagen ein. Aus Venedig, aus Toronto, aus Sundance. Tenor: kein Interesse. "Vic­toria", das klang erst einmal nicht nach Sieg. Bis die Zusage der Berlinale kam. Der Film sorgte dort für reichlich Furo­re und Begeisterung, einen Bären gewann jedoch nur Kameramann Sturla Brandth Grøvlen. Natür­lich völlig zu Recht. Doch bald folgten weitere, auch internationale Preise - und sechs Lolas in Gold! Und alle Welt wollte nur noch wissen: Hat er nun geschummelt oder nicht? Gibt es nicht doch den einen oder anderen ver­steckten Schnitt? Fragen, die Regisseur Schipper vehement verneinte und irgend­wann schlicht nervten. Aber klar, die Vermutung ist verständlich, schließlich gelingt es heute mit modernster Tech­nik, Schnitte zu setzen, die kein Mensch mehr erkennen kann - so geschehen zum Beispiel in Alejandro González Iñárritus vierfachem Oscar-­Gewinner "Birdman". Und auch Alfred Hitchcocks berühmter Film "Cocktail für eine Leiche" von 1948 gibt nur vor, in einem Take ge­dreht worden zu sein: 35­mm­Filmrollen konnten damals nur maximal zehn Minu­ten aufnehmen.
Kompromisslosigkeit lohnt sich
Foto: Arte
"Victoria" wurde von der internationalen Filmkritik gefeiert, in Deutschland sahen ihn knapp über 400 000 Zuschauer, was für ein Filmexperiment dieser Art ziem­lich gut ist. Allerdings, "Toni Erdmann", der deutsche Arthouse­-Überraschungs­erfolg des Jahres 2016, erreichte doppelt so viele Zuschauer und bot auch nicht ge­rade leichte Mainstreamkost. Was beide Filme verbindet, ist ihre Kom­promisslosigkeit. Dass die belohnt wurde, macht Hoff­nung, dass hierzulande die Bereitschaft zu größeren künstlerischen Wagnissen wächst.

Zwischen seinem tollen Regiedebüt "Abso­lute Giganten" von 1999 und "Victoria" hat Sebastian Schipper nur zwei weitere Filme realisieren können - "Ein Freund von mir" und "Mitte Ende August". Dafür stand er oft vor der Kamera, unter anderem für den Schmachtfetzen "Der englische Patient", für Tom­-Tykwer­-Filme wie "Lola rennt" oder "Drei" bis zu fünf "Tatort"­Folgen mit Wotan Wilke Möhring. Dieses Stand­bein hat Schipper vorerst stillgelegt, er will Regie führen - und darf dies nun erstmals bei einer US-­Produktion. Das Drehbuch zu "Undeniable" hat er mit der "Shame"-­Autorin Abi Morgan verfasst, produzieren wird Darren "Black Swan" Aronofsky.
Autor: Kay Borowietz