Eigentlich ist es ein alter Hut, dass sich Gangster auch an fil­mischen Vorbildern orientieren. Spätestens als Francis Ford Coppolas "Der Pate" 1972 ins Kino kam, ließen sich viele junge Männer aus dem Dunstkreis der ehrenwerten ­Gesellschaft von den Klamotten beeinflussen, die auf der Leinwand zu sehen waren. Und natürlich von den Dialogen. Die Mafia als Teil der Popkultur - kein Wunder, dass das Abbild vom Abbild eines Mafioso nach Filmen wie "GoodFellas" oder Serien wie "Die Sopranos" so schwer vom Original zu unterscheiden ist.

Der Journalist Roberto Saviano kennt diesen Teufelskreis. In seinem Bestseller "Gomorrha" über das ­Innenleben der Camorra zitiert er ­einen Mitarbeiter der Spurensicherung: "Nach Tarantino haben sie ­aufgehört, ordentlich zu schießen. Sie halten den Lauf nicht mehr gerade, sondern schräg und flach." Genau wie der vom Starregisseur verkörperte Psychopath in Robert Rodriguez' Horrorkult "From Dusk Till Dawn" (1996).

"Im Stil von Gomorrha" - eine Serie macht Schlagzeilen

Seit der Verfilmung von Savianos Reportagebuch - 2008 fürs Kino, ab 2014 auch als TV-Serie - ist der Autor selbst mit dem Vorwurf konfrontiert, die auf seinen Schilderungen basierenden Szenen dienten Jugendlichen in Neapel als Inspirationsquelle. Noch nie allerdings war die Kritik so heftig wie nach der kürzlich in Italien ausgestrahlten dritten Staffel (läuft seit 6.3. auf Sky Atlantic). Mal geht es nur um die Frisuren und Tattoos der Serienkiller, mal aber auch, wie einst bei ­Tarantino, um die Handhaltung beim Abfeuern der Waffe. Angeblich wird in den Straßen Neapels immer öfter geschossen wie im Fernsehen.

Außerdem warfen gleich mehrere ­Ermittler und Politiker Saviano und den anderen Machern der Serie vor, die in "Gomorrha" gezeigten Hauptfiguren seien zu sympathisch. Einer der eifrigsten Kritiker ist Neapels Bürgermeister Luigi de Magistris: "Ich bin sehr ­besorgt über den Eifer vieler junger Menschen, die die negativen Charaktere der Serie nachahmen, als würde es sich um nette, sympathische Leute handeln." Für den Zuschauer schwer vorstellbar, denn die Serie versucht, "das Böse aus dem Inneren heraus zu erzählen", wie Saviano sagt. Das Gute kommt nicht vor, und echte Empathie weckt keine der Figuren.

Die harte und realistische Darstellung des organisierten Verbrechens in "Gomorrha" erweist sich als Bumerang für den Mafiaexperten, der seit seinen Enthüllungen auf der Abschussliste der Camorra steht und unter Polizeischutz leben muss. Wo alles so ungeschönt wirkt wie in der oft an trostlos-brutalen Originalschauplätzen gedrehten Serie, verschwimmen Grenzen zwischen Realität und Fiktion fast zwangsläufig. "Es ist ein interessantes Paradox", führte Saviano in einer Videobotschaft während der Pressekonferenz anlässlich des Staffelstarts in Italien aus. "Wann immer ein Bild von Verbrechern auftaucht, auf dem sie bewaffnet sind, sich in Pose werfen, lautet die Schlagzeile dazu: ,Im Stil von Gomorrha‘."

Der Fluch des Wahrhaftigen

Dann schildert er eine Art Kreislauf, der zu dieser Einschätzung führt. "Die Serie stellt bestimmte Mechanismen der organisierten Krimina­lität dar und macht sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Diese Mechanismen gibt es bereits, nur werden sie in Verbrechensberichten oft übersehen. Am Ende beginnt man, diese Muster, die man in der Serie gesehen hat, in der Realität zu erkennen. Und schon fängst du an zu glauben, dass die Wirklichkeit von unseren Schauspielern, unserer Story beeinflusst wird." Das sei aber nicht der Fall. ­Jedenfalls nicht auf diese Art. Savianos Hoffnung ist vielmehr, dass die Serie dazu beiträgt, kriminelle Ver­haltensmuster zu decodieren, "nicht als lokales Phänomen in Süditalien, nicht in Italien, sondern auf einem internationalen Level."

Einem Abstecher nach Köln in der zweiten Staffel folgt diesmal einer nach Sofia. Laut Saviano der Versuch zu zeigen, dass die "Grammatik der Gewalt" an vielen Orten der Welt nach den immer gleichen Regeln funktioniert. Von Neapels Trabantenstadt Scampia führt der Weg in Bulgariens Hauptstadt, von dort nach Paris nach Mexiko-Stadt nach Lagos. An all diesen Plätzen gibt es Saviano zufolge mit den in der Serie gezeigten Camorra-Hochburgen vergleichbare Gegenden.

Dennoch kehrt der gebürtige Neapolitaner am liebsten vor der eigenen Tür. In seinem gerade auf Deutsch ­erschienenen Romandebüt "Der Clan der Kinder" greift er einen beunruhigenden Kriminalitätstrend in Neapel auf: Seit einiger Zeit machen sogenannte Baby-Gangs die Straßen unsicher. Letztlich kann den Mitgliedern, oft nicht älter als elf, zwölf Jahre, keiner was, weil sie nicht strafmündig sind. Bürgermeister di Magistris ist auch Savianos jüngstes Werk ein Dorn im Auge: Es schlage Kapital aus dem Leid der Kinder und Opfer. Für einige bleibt der Aufklärer ein Nestbeschmutzer.

Zwischen Film und Wirklichkeit

Mafiosi auf der Leinwand faszinieren nicht nur rechtschaffenes Publikum, sondern auch echte Gangster.

Scarface (1983)
Der sizilianische Boss Walter Schiavone ließ sich Al Pacinos Protzvilla aus Brian De Palmas "Scarface" nachbauen. Heute beherbergt das Gebäude ein Rehazentrum für Behinderte.

Public Enemy (1931)
Das Warner-Bros.-Studio soll Al Capone 1930 das Angebot unterbreitet haben, sich in "Public Enemy" von William A. Wellman selbst zu spielen. Ohne Erfolg. Stattdessen besuchte der Gangster später Regisseur Howard Hawks am Set von "Scarface". Er wollte sicherstellen, dass er "richtig" dargestellt wird.

Der Pate (1972)
Beeindruckt von "Der Pate" äffte der Cosa-Nostra-Boss Luciano Liggio auf Fotos Marlon "Don Vito" Brando nach, mit Sonnenbrille, Zigarre und vorgeschobenem Unterkiefer.

Die Sopranos (1999-2007)
Zwei Brüdern in den USA diente eine Szene aus der Serie "Die Sopranos" 2003 als Vorbild, um ihre Mutter im Stil der Mafia umzubringen und zu zerstückeln